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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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überflüssigerweise erinnerte er Zhu daran, dass sich Leticia Jones’ Besuch mit Mary Cauls letzten Tagen in China überschnitt.
    Inzwischen war es Mitternacht, also rief Zhu zu Hause an, um sich vom Dienstmädchen versichern zu lassen, dass Sung Hui friedlich schlief. Danach ließ er sich von seinem Assistenten zum Crowne Plaza fahren. Die nächsten drei Stunden verbrachte er mit dem Sicherheitschef, einem rundgesichtigen Uiguren, der sich immer wieder eine neue Kanne Longjing-Tee bringen ließ, während sie Tonaufzeichnungen aus den Zimmern und Filmaufnahmen aus den öffentlichen Bereichen durchgingen. Zhu kannte die ungefähren Tage, die interessant waren, und den Namen Mary Caul, deren Foto er auch aus der Akte hatte. Die andere – Rosa Munu alias Leticia Jones – war im Hua Thai abgestiegen, doch auch von ihr hatte er ein Bild. Auf einer Filmdatei vom Dienstag, den 6. Mai, mit dem Zeitcode 3.12 Uhr wurden sie schließlich fündig. Leticia Jones und Mary Caul auf einem Ledersofa in der Lobby, in ein lebhaftes, fast intim wirkendes Gespräch vertieft.
    »Gibt es Ton?«
    »Tut mir leid, Genosse«, antwortete der Uigure.
    Obwohl er in diesen Angelegenheiten besondere Sorgfalt walten ließ, unterlief Zhu am nächsten Morgen ein Fehler, als sich Sung Hui nach dem Rockmusiker erkundigte. Nachdem er ungefähr vier Sekunden lang durch das Küchenfenster in den grauen Himmel gestarrt hatte, entschied er sich für Ehrlichkeit und teilte ihr mit, dass hinter Dongfan Beisans Fragen eine amerikanische Geheimagentin steckte.
    Sung Hui wankte langsam zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Die wollen mich umbringen.«
    »Warum sollten sie dich umbringen wollen?« Er griff nach ihrer Hand.
    Statt einer Antwort fixierte sie nur stumm die große Hand, die ihre kleine umschloss.
    »Wegen deiner beachtlichen Anstrengungen gegen sie?«
    Lächelnd schüttelte sie den Kopf, weil sie wusste, wie komisch das klang. Seit ihrer Heirat hatte sie jede Parteiarbeit eingestellt. Inzwischen war sie, wie sie selbst einräumte, eine kapitalistische Schlampe, die sich nach dem Leben in einer Modezeitschrift sehnt. Schließlich sagte sie: »Ich weiß nicht, warum sie mich umbringen wollen.«
    »Sie wollen es nicht.«
    Doch als sie den Kopf hob, war das Lächeln verschwunden, und sie umklammerte mit der anderen Hand seine Finger. »Dann wollen sie dich umbringen.«
    Das Problem war, dass sie die radikale Parteidoktrin einfach zu sehr verinnerlicht hatte. Für sie stand unverrückbar fest, dass westliche Geheimdienste nur nach einem strebten – der Zerstörung des chinesischen Kommunismus – und bereit waren, ohne jede Rücksicht Berge von chinesischen Leichen aufzutürmen, um dieses Ziel zu erreichen.
    »Wahrscheinlich wollen sie gar niemanden umbringen«, erklärte Zhu. Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie ihm glauben würde. Und auch er selbst wusste nicht, ob er es glauben sollte.
    Zhang Guo hatte ein Separee mit Meerblick im Yijing Lou reserviert, einem der Spitzenrestaurants von Qingdao, doch bevor sie Platz nahmen, machten sie mit dem Kellner einen Rundgang durch die Aquarien, um ihre Wahl zu treffen.
    »Der da sieht aus wie Wu Liang.« Zhang Guo wies mit dem Kinn auf einen müde wirkenden grauen Aal am Boden des Glastanks.
    Zhu beugte sich vor, um dem Fisch scharf in die schwarzen Augen zu schauen, dann richtete er sich wieder auf. »Wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich will ihn gebraten.«
    Der Kellner verneigte sich in übertriebener Höflichkeit.
    Als das Essen serviert wurde, war es neun, und auf dem Tisch standen bereits vier leere Bierflaschen, die der Kellner rasch wegräumte. Durch das offene Fenster beobachteten sie Schiffe, die die Wasseroberfläche beleuchteten, und oben die landeinwärts ziehenden Wolken, die die Sterne auslöschten.
    »Wie hat es sich angefühlt?«, fragte Zhang Guo.
    »Wie hat sich was angefühlt?«
    »Die Vernichtung der Abteilung Tourismus. So heißt sie doch, oder?«
    »Sie heißt gar nicht mehr.«
    Zhang Guo schnaubte und nahm einen Bissen. »Die Forelle ist köstlich. Willst du probieren?«
    Zhu antwortete nicht.
    »Wie ist dein Aal?«
    »Das waren die zwei schrecklichsten Tage meines Lebens. Danach habe ich zwölf Stunden durchgeschlafen.«
    Bedächtig kauend wartete Zhang Guo ab.
    »Nach dem Aufwachen«, fuhr Zhu fort, »hatte ich meine Zweifel abgeschüttelt. Ich bin nicht wahnsinnig, verstehst du? Als ich den Befehl gab, war mir klar, dass ich für mein Vorgehen nicht nur Lob

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