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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Autoren: Edward O. Wilson
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Menschen einem Halbmarathon.
    Dass Insektenflüge über so große Radien reichen, führt zu einer immer weiteren Streuung einzelner Königinnen in jeder Generation, gemessen an ihrer Größe. Dasselbe galt wohl für die solitären Wespen, die Vorfahren der Ameisen, sowie für die solitären protoblattoiden Vorfahren der Termiten.
    Auf den ersten Blick scheint es, dass dieser Unterschied zwischen den fliegenden Ameisenvorfahren, bei denen jede Gründerin einer neuen Generation selbständig auswandert, und den mühsam wandernden Säugetiervorfahren des Menschen, die gezwungenermaßen in größerer räumlicher Nähe blieben, die Herausbildung eines fortgeschrittenen Sozialverhaltens bei Insekten weniger wahrscheinlich macht. Und doch trifft genau das Gegenteil zu. In einer beständig sich wandelnden Umwelt kann die fliegende Ameise bei ihrer Landung mit höherer Wahrscheinlichkeit unbesetzten Raum finden als das umherziehende Säugetier. Außerdem ist das Territorium, das sie zum Überleben braucht, sehr viel kleiner als das eines Säugetiers, und es ist weniger wahrscheinlich, dass es sich mit bereits bestehenden Territorien von Individuen derselben Art überschneidet.
    Das potenziell soziale Insekt hat einen weiteren Vorteil: Die weibliche Kolonistin braucht auf ihrer Reise kein Männchen. Nach ihrer Begattung im Hochzeitsflug bewahrt sie die empfangenen Spermien in einer kleinen Samentasche (Spermathek) in ihrem Hinterleib auf. Sie kann die Spermien einzeln wieder abgeben, um ihre Eizellen zu befruchten, und damit über Jahre hinweg Hunderte oder Tausende Arbeiterinnen hervorbringen. Den Rekord halten dabei die Blattschneiderameisen: Eine einzige Königin kann in ihrer etwa zwölf Jahre dauernden Lebensspanne 150 Millionen Tochtertiere gebären. Drei bis fünf Millionen dieser Arbeiterinnen leben immer gleichzeitig – das entspricht in etwa der menschlichen Bevölkerung eines Landes wie Litauen bzw. Norwegen.
    Säugetiere und besonders Fleischfresser haben sehr viel größere Reviere zu verteidigen, wenn sie sich niederlassen, um ein Nest zu bauen. Bei jeder Ortsveränderung begegnen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Rivalen. Weibchen können in ihrem Körper keine Spermien lagern. Sie müssen für jeden Geburtsvorgang ein Männchen finden und sich mit ihm paaren. Machen die Möglichkeiten und Zwänge der Umwelt soziale Verbände profitabel, so müssen persönliche Bindungen und Bündnisse auf der Basis von Intelligenz und Gedächtnis dafür sorgen.
    Die Entwicklung der beiden sozialen Eroberer der Erde lässt sich bis hierher so zusammenfassen: Physiologie und Lebenszyklen bei den Vorfahren der sozialen Insekten und denen des Menschen unterschieden sich in der Evolution zur Herausbildung hoch entwickelter Gesellschaften fundamental. Die Insektenkönigin konnte mit reinem Instinktverhalten eine automatenhafte Nachkommenschaft produzieren; die Vormenschen mussten dazu auf Bindung und Kooperation zwischen Individuen zurückgreifen. Insekten konnten durch individuelle Selektion an der Linie der Königin die Eusozialität herausbilden; bei den Vormenschen bestand die Evolution zur Eusozialiät in einem Wechselspiel der Selektion auf der Ebene der Individuen und auf Ebene der Gruppe.

3.
DIE LANGSTRECKE
    Kein individueller Evolutionsverlauf lässt sich vorhersagen, weder an seinem Anfang noch kurz vor dem Ende. Die natürliche Selektion kann eine Art an den Rand einer größeren revolutionären Veränderung bringen und im letzten Moment doch daran vorbeisteuern. Und doch lassen sich bestimmte Verläufe der Evolution als möglich oder unmöglich definieren, zumindest auf diesem Planeten. Insekten können sich zu fast mikroskopischen Ausmaßen entwickeln, aber nie zu so großen Tieren wie Elefanten. Schweine könnten Wassertiere werden, aber fliegen werden ihre Nachfahren nie.
    Die mögliche Evolution einer Art lässt sich als Reise durch ein Labyrinth verbildlichen. Kommt ein größerer Vorteil wie das Aufkommen der Eusozialität in Reichweite, so macht jede genetische Veränderung, jede Kehre im Labyrinth das Erreichen dieses Niveaus entweder weniger wahrscheinlich, ja gar unmöglich, oder aber die Möglichkeit bleibt bis zur nächsten Kehre weiterhin bestehen. Bei den ersten Schritten sind noch so viele Optionen offen, und der Weg ist noch so weit, dass das Erreichen des letzten, entferntesten Ziels noch kaum wahrscheinlich zu nennen ist. Gegen Ende ist das Ziel nur noch wenige Schritte entfernt; es wird daher
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