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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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etwas zu. In der Hitze des späten Vormittags überbrückte seine Stimme die kurze Entfernung mit einem trägen Hall. Wir ließen die Schultern hängen.
    Der Mann antwortete, und der Dolmetscher übersetzte seine Worte mit einer genau bemessenen Verzögerung, die unsere Verwirrung noch weiter steigerte. Beim Klang ihrer Stimmen hatte ich kurz das Gefühl, diese Szene schon einmal erlebt zu haben.
    »Er sagt, er sei hier bereits durchgekommen und wolle diesen Weg auf keinen Fall noch einmal nehmen.« Die Worte des unter dem Baum sitzenden Mannes waren verklungen, bevor der Dolmetscher seine Sätze auf Pidgin-Englisch vollendete. Wir sahen ihn fragend an, und er sagte: »Schaut dort nach«, wobei er auf ein Gestrüpp unterhalb des Minaretts deutete.
    Sterling winkte den Dolmetscher weg. »Alles klar. Verpiss dich. Geh wieder zu den anderen.«
    »Ich weiß nicht, Sarge. Hier stimmt was nicht«, sagte ich. »Riecht nach einem Hinterhalt.«
    Sterling warf mir einen ungewöhnlich gelassenen Blick zu. »Mann, Private, haben Sie’s immer noch nicht kapiert? ›Stimmt was nicht‹ ist genau das, wonach wir suchen.«
    Ich wartete.
    »Ach, Scheiße«, sagte er. »Gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.«
    Wir hatten ihn wie verrückt gesucht, diesen einen Jungen, diesen Namen und diese Zahl auf einer Liste, und als der Mann zum Minarett deutete, wurden unsere Befürchtungen zu Tatsachen, unsere Hoffnungen zunichte. Wir streckten die Waffen, ohne zu wissen, wem wir uns ergaben. In der Ferne ertönte immer wieder Gewehrfeuer. Später wäre die ganze Stadt von Messinghülsen bedeckt. Zerschossene Gebäude hätten neue Einschusslöcher. Vor unserem Rückmarsch würde Blut auf die Straße gespült, in Gullis gewaschen werden.
    Wir sahen zu dem alten Mann, der friedlich im Schatten des Baumes saß, und merkten erst jetzt, wie uralt er war, welch tiefe Geheimnisse seine dunklen Augen bargen. Sein weißes Gewand flatterte im Wind, und er lachte und wedelte mit einer Hand, um Bienen zu verscheuchen. Wir wandten uns ab und gingen zu den spärlichen Bäumen und Büschen, die im Umkreis des Minaretts wuchsen.
    Direkt vor der Mauer waren Bäume und Pflanzen klein und trocken wie Zunder. Der Turm selbst ragte hoch über dem Fluss auf, wuchte sich zwischen Dreck und verdorrten Pflanzen wie ein uralter Schrei aus der Erde. Sterling und ich umrundeten ihn in der Mittagshitze. Wir fanden Murph zwischen toten Hyazinthen, reglos im Schatten der Gräser und niedrigen Äste.
    Er lag mit absurd verrenkten Gliedmaßen und gebrochenen Knochen im Dickicht unterhalb des rosig schimmernden Minaretts. Dies war der Endpunkt seiner Reise. Wir entfernten das Gestrüpp, das von Wind oder Menschen auf ihn geworfen worden war, legten zuerst seine Füße frei. Sie waren klein und blutig. Ein Sergeant im Depot hätte nach einem Blick darauf gesagt: Schuhgröße 39 , aber Murph brauchte jetzt keine Stiefel mehr. Ein Blick nach oben verriet uns, dass er aus einem Fenster gefallen war, in dem man zwei Lautsprecher installiert hatte, um den Ruf des Muezzins zu verstärken.
    Daniel Murphy war tot.
    »Ist eigentlich gar nicht so hoch«, sagte Sterling.
    »Was?«
    »Er war bestimmt schon tot, als er runtergefallen ist. So hoch ist das Fenster auch wieder nicht.«
    Ja, so tief war er wirklich nicht gefallen: Bereits gebrochene Knochen waren noch einmal gebrochen worden. Murph hatte sich weder wehren noch auf den Aufprall gefasst machen können; er war schon tot, der Sturz nicht mehr von Bedeutung für ihn gewesen.
    Wir befreiten Murph von dem Gestrüpp, bereiteten ihm ein halbwegs würdevolles Lager. Dann betrachteten wir ihn. Er hatte Schürfwunden, Schnittwunden, Knochenbrüche, und bis auf Hände und Gesicht war er immer noch am ganzen Körper blass. Dort, wo seine Augen gewesen waren, gähnten zwei leere Höhlen wie rote, zornige, in seinen Geist führende Eingänge. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, den Kopf, der nur noch an der Wirbelsäule hing, fast vollständig abgetrennt. Wir schleppten ihn wie ein geschossenes Stück Rotwild aus dem Dickicht, konnten nicht verhindern, dass sein nackter Körper über den steinigen Boden holperte und hüpfte, ein Anblick, der sich unserem Gedächtnis für immer einbrannte. Man hatte seine Ohren abgeschnitten. Man hatte seine Nase abgeschnitten. Man hatte ihn stümperhaft entmannt.
    Er war zehn Monate bei uns gewesen. Er war achtzehn Jahre alt. Jetzt war er ein Niemand. Das Zeitungsfoto würde ihn zu Beginn der
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