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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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meiner Haftzeit. Ich hatte mir immer ein alltägliches Leben gewünscht, und ein solches führte ich jetzt. Ich war glücklich. Die Haftanstalt, eine Regional Confinement Facility, war für Häftlinge gedacht, die nicht mehr als fünf Jahre absitzen mussten, und wurde von den Knackis nur »Tagesbetreuung für Erwachsene« genannt. Ich fand das sehr komisch.
    Erfreulicherweise erinnerte sich fast niemand mehr an meine Existenz. Das Personal erlaubte mir, Bücher aus der relativ gut bestückten Gefängnisbibliothek auszuleihen. Nach der Lektüre stapelte ich sie auf dem Metalltisch, der an der Wand der Zelle befestigt war, und stieg darauf, um aus dem Fenster schauen zu können. Es saß hoch oben in der Wand, ließ aber viel Licht herein und bot einen herrlichen Ausblick auf den Sportplatz und das Baumspalier hinter dem Drahtzaun, der die Grenze des Anstaltsgeländes auf der Basis bildete. Ich balancierte so lange wie möglich auf den Büchern, deren Einbände allmählich zerfielen. Jenseits der Bäume drehte sich die Welt ahnungslos weiter, verschloss die Augen vor unserem kleinen, miesen Krieg.
    Während der ersten Monate im Knast verbrachte ich viel Zeit mit dem Versuch, den Krieg mit einem Muster zu unterlegen. Ich entwickelte die Angewohnheit, bestimmte Erinnerungen mit Kreidezeichen auf der Wand zu markieren, weil ich glaubte, später darauf zurückkommen, alle Zeichen zu einer sinnvollen Geschichte zusammensetzen zu können. Ich wusste noch Jahre später, wofür die einzelnen Zeichen standen: Der lange Kreidestrich unter dem Spiegel stand für den jungen Mann, der auf der Obstwiese im Sterben gelegen hatte, sein Kopf in Murphs Schoß. Der Strich über meinem Bett erinnerte an einen Gedankenblitz, den ich in einer Gasse in Al Tafar gehabt hatte, in der Hitze des ersten Sommers, als wir die spärlichen Schatten der Stromleitungen, unter denen wir durchmarschiert waren, als Segen empfunden hatten. Ich weiß nicht mehr, wer es war, aber irgendjemand bog um eine Ecke, und ich sah Sterling, der sich umdrehte und Murph und mir mit einem Wink befahl, die offene Straße zu überqueren, und mir kam der Gedanke, dass Murph eine Wahl gehabt hatte, dass er sich zwischen Sterling und mir hatte entscheiden können. Seine Wahl war auf mich gefallen, und ich fragte mich, ob ich dieser Aufgabe würdig gewesen war, warum in aller Welt Murphs Mutter ausgerechnet mich gebeten hatte, auf ihn aufzupassen, worin der Anlass für ihre Bitte bestanden hatte. Wenn ich mich nicht irre, zerbrach das Kreidestück, als ich das Zeichen auf die Wand malen wollte, und es wurde kürzer als beabsichtigt. Hatte es eine Bedeutung, dass diese Wahl nur eine Illusion war, dass jede Wahl, zumindest jedoch die Macht, die man ihr zuschreibt, eine Illusion ist? Jede Entscheidung muss ja im Einklang mit allen anderen stehen, die Menschen in einem bestimmten Augenblick treffen. Das Zeichen wurde eine Art Blitz, eine Kreidestaubexplosion auf der hellgrün gestrichenen Zellenwand. Darf man so vermessen sein, sich einzubilden, dass der eigene Wunsch angesichts der vielen Widerstände in Erfüllung gehen könnte? Und was ist mit einer Wahl, wie Murph sie hatte, eine Wahl, die sich durch seinen Tod als sinnlos erwies? War seine Wahl wirklich auf mich gefallen? Es mag komisch klingen, aber ich erinnere mich an die Bedeutung jedes einzelnen Zeichens, und irgendwann dämmerte mir, dass ich sie nicht ordnen konnte. Jedes Zeichen hatte seinen Platz, und deshalb wäre es falsch gewesen, sie zu verbinden. Der jeweilige Platz war sowohl zufällig als auch schicksalhaft. Ich malte diese für die Willkür des Krieges stehenden Zeichen, wann immer mir etwas einfiel: Unordnung gewann die Oberhand. Im winzigen Universum meiner Einzelzelle wucherte die Entropie, und ich akzeptierte irgendwann, dass nur eines dauerhaft Bestand hat: die Tatsache, dass sich alles voneinander löst und entfernt.
    Manchmal kam jemand vom Personal vorbei und streifte die neuen Zeichen in meiner Zelle mit einem Blick, ohne sie von den alten unterscheiden zu können. Einige Wärter schienen zu ahnen, was das Ganze zu bedeuten hatte, und bevor sie wieder einmal zwei Tage dienstfrei hatten oder in Urlaub gingen, bemerkten sie immerhin, dass sich die Willkür weiter ausbreitete. Ich verstehe inzwischen, warum sie ein Muster darin sahen, und vielleicht gab es tatsächlich eines, und wenn ich noch ein oder zwei Jahre länger gesessen hätte, wären die Wände vermutlich voll gewesen, dann hätte es keine
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