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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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Stunden, und ich konnte am Ende kein eindeutiges Anzeichen dafür erkennen, ihr eine Last von den Schultern genommen zu haben. Sie hatte mir keine Vergebung gewährt, und ich hatte auch nicht darum gebeten. Aber nachdem sie fort war, hatte ich das Gefühl, dass meine – und vielleicht auch ihre – Schicksalsergebenheit jetzt berechtigt war, was an und für sich schon ein großer Schritt gewesen wäre, weil Schicksalsergebenheit heutzutage schnell als etwas Sentimentales abgetan wird.

    All das ist lange her. Auch mein Verlustgefühl verblasst. Ich weiß nicht, in was es sich verwandeln wird. Vielleicht in das Altern, denn das bleibt Murph verwehrt. Ich merke, dass er mir immer weiter entrückt, und ich ahne, dass Tage vor mir liegen, an denen ich weder an ihn noch an Sterling noch an den Krieg denken werde. Ich bin jedenfalls entlassen worden, habe mir den Luxus einer stillen Quarantäne in einer Hütte am Fuße der Blue Ridge Mountains gegönnt. Der Geruch des Tigris hat sich meiner Erinnerung unauslöschlich eingeprägt, und ich kann ihn manchmal riechen, sehe ihn dahinströmen wie damals, aber diese Erinnerung verfliegt rasch in der kalten, klaren Luft, die zwischen den aufwärtsdrängenden Föhren über die Bergflanke streicht.
    Ich fühle mich wieder normal. Allmählich wird jeder Tag zur Gewohnheit. Die Einzelheiten unserer Welt sind im Grunde nicht so wichtig; sie haben nur eine Bedeutung, weil wir uns täglich mit ihnen arrangieren müssen. Ja, ich bin wieder ganz normal, von einigen Eigenheiten abgesehen, die ich wohl nie mehr ablegen werde. Ich kann meinen Blick nicht mehr über eine Landschaft schweifen lassen, die sich bis zum Horizont erstreckt. Ich mag keine Wüsten, keine Ebenen, keine Prärien. Alles Ungebrochene weckt Unbehagen in mir. Ich ziehe es vor, die Berge zu betrachten, mag es, wenn Bäume die Sicht versperren, ob Föhre, Eiche oder Pappel. Ich brauche etwas Begrenztes und Beherrschbares, etwas, das die Welt in kleine Parzellen aufteilt, die mich nicht überfordern.
    Als Murphs Mutter mich besuchte, brachte sie mir eine Karte des Irak mit. Ein merkwürdiges Geschenk, wie ich fand, als ich die Karte in meiner Zelle betrachtete, mit ihrer Faltung kämpfte, als ich sie abends wegpacken wollte. Al Tafar und Umgebung waren vergrößert dargestellt. Nach einer Weile verlor ich den Spaß daran. Ich empfand das Raster als fremdartig und ungenau. Es war ein Ort, dessen Existenz auf der Karte durch die Vergrößerung ausgelöscht worden war.

    Am ersten Tag in meiner Hütte packte ich meine Sachen aus, legte einige davon auf das alte, olivfarbene Feldbett, das ich in dem Army-Navy-Store gleich außerhalb der Basis, auf der die Haftanstalt lag, gekauft hatte. Ich besaß wenig: ein paar Kleider, die Karte, die Mrs Murphy mir geschenkt hatte. Ich befestigte sie mit Klebeband an der Wand, straffte sie so gut es ging, doch die Falten blieben. Ich weiß noch, dass ich mit dem Finger über einen Knick fuhr, der quer über einen kleinen Abschnitt des Tigris verlief, genau dort, wo der Fluss durch Al Tafar strömt. Ich kramte in meinem Seesack, förderte einen meiner Orden zutage und heftete ihn neben die Stelle, wo wir Murph dem Fluss übergeben hatten. Wie jede andere Karte wäre auch diese bald veraltet, wenn sie es nicht schon längst war. Was darauf festgehalten war, stellte nur die Idee eines Ortes dar, eine Abstraktion, aus Erinnerungen gebildet, die so kurz und flüchtig waren, dass sie keine Rechenschaft über die kleinen Einwirkungen der Zeit ablegten: ein Wind, der den Staub auf der Ebene von Ninive aufwirbelte, immer weiter anhäufte; ein Fluss, der sich Stunde um Stunde, Jahr um Jahr tiefer in eine Biegung fraß. Diese Karte würde den Tatsachen mit der Zeit immer weniger entsprechen, die Erinnerung nur noch mangelhaft auf eine zweidimensionale Fläche übertragen, etwas, das mich an Sprache erinnerte: Was man sagt, entspricht nie genau dem, was man denkt, und was man hört, entspricht nie genau dem, was gesagt wurde. Es mag kein Trost sein, aber man kommt zurecht, obwohl so gut wie nichts ohne Makel ist.
    Ich ging nach draußen, um eine Runde zu drehen. Hier in den Bergen war es still. Ich nickte im Sonnenschein ein, hörte das Rascheln, mit dem in irgendeinem Winkel der USA ein kleines Denkmal enthüllt wurde, vernahm das Gemurmel fremder Stimmen.
    Und dann erblickte ich Murph, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte, doch er war schön. Seine Wunden waren nicht mehr so grässlich, seine entstellten
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