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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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Zeichen mehr gegeben, sondern einen neuen Anstrich, eine weiße Patina aus dichten, verschlungenen Erinnerungen, die alles bedeckt und die Wände ersetzt hätten, zwischen denen ich eingesperrt war, und das hätte ich als angemessen empfunden, das wäre ein würdiges Muster gewesen. Doch so weit kam es nicht. Denn alles nimmt ein Ende. Die Wärter ahnten offenbar, dass meine Zeichen eine Bedeutung hatten, und dass ihre Deutung falsch war, muss man ihnen wohl nachsehen.
    Sie fragten: »Dein frühstmöglicher Entlassungstermin rückt immer näher, was?«
    »Klar«, sagte ich. »Ist unausweichlich.«
    »Du wirst sicher vorzeitig entlassen. Du bist ein vorbildlicher Häftling.«
    »Danke, aber das bleibt abzuwarten.«
    »Wie viele Tage hast du schon abgehakt?«, fragten sie und deuteten auf die Zeichen an den Wänden, und erst da wurde mir bewusst, dass es aussah, als würde ich die Tage zählen.
    »Neunhundertdreiundachtzig oder neunhundertneunzig. Fast tausend, würde ich schätzen«, sagten sie lächelnd.
    »Gut möglich«, erwiderte ich und dachte an Murph, fragte mich, welche Zahl er auf der Liste der Gefallenen gewesen wäre, wenn ich seine Geschichte wahrheitsgemäß erzählt hätte.
    Seine Mutter kam einmal zu Besuch, im Frühling vor meiner Entlassung. Sie hatte offenbar geweint, während sie darauf gewartet hatte, in den Besucherbereich eingelassen zu werden.
    »Sie dürfen einander nicht berühren, aber einen Kaffee können Sie bekommen«, sagte der Wärter.
    Ich wusste anfangs nicht, was ich sagen sollte. Es kam mir ungerecht vor, dass sie sich quälen musste, weder Trost fand noch begriff, was geschehen war. Wenn es jemanden gab, den sie anklagen konnte, so war ich es, denn es war meine Schuld, dass Murph nicht in der Grabstätte seiner Familie beerdigt worden war. Ich hatte ihn dem Fluss übergeben. Ich hatte befürchtet, dass die Wahrheit unerträglich für sie wäre, hatte aber nicht das Recht gehabt, diese Entscheidung für sie zu treffen. Doch sie wirkte gefasst. Wie so viele andere Menschen trauerte sie würdevoll und im Stillen, und vielleicht liegt es genau daran, dass die Trauer allgegenwärtig ist.
    »Keine Ahnung, warum ich hier bin«, sagte sie.
    Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
    »Ich wollte Sie einfach nur sehen, verstehen Sie?«
    Ich starrte den Linoleumfußboden an.
    »Nein. Wie sollten Sie auch.«
    Sie erzählte mir von dem Dezember, als ein schwarzer Sedan langsam durch die Stadt gefahren war. Eine Freundin hatte sie angerufen, um sie vorzuwarnen. Sie hatte den Mann in Ausgehuniform auf dem Beifahrersitz gesehen und sagte Mrs Murphy, dass sich die Männer verfahren hätten, aber bald da wären.
    Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Mr und Mrs Murphy aus dem Küchenfenster schauten. Höchstwahrscheinlich schneite es, denn es hatte schon den ganzen Abend geschneit, und der Schnee bedeckte das Dach der Veranda und die Hügel, er lag auf den Ästen der Bäume. Die Welt war schneeweiß und wie gedämpft. Keine Winkel, keine Kanten. Das Auto fuhr um die letzte Straßenbiegung, es war kaum wahrnehmbar, schien unsichtbar zu sein.
    Mrs Murphy und ihr Mann sahen das Auto natürlich, aber sie begriffen nicht. Sie standen wie gelähmt am Fenster. Sie blieben stumm, und bis auf den Schnee, der etwas heftiger fiel, und das schwarze Auto, das auf seinem Weg durch die leere, weiße Landschaft immer größer wurde, blieb die Welt unverändert. Die beiden starrten weiter aus dem Fenster. Sie regten sich selbst dann nicht, als das Auto auf dem kleinen Wendehammer ihrer Auffahrt hielt – der Motor leise, aber unüberhörbar. Sie blieben auch dann noch stehen, als Captain und Kaplan die Mütze abnahmen und an die Tür klopften. Und obwohl das leise Klopfen bewies, dass es Menschen aus Fleisch und Blut waren, starrten Mrs und Mr Murphy weiter aus dem Fenster auf das Auto, als wäre es die Verkörperung eines der unlösbaren Rätsel Gottes.
    Als die beiden Männer behutsam die Haustür aufdrückten, hatte Mr Murphy seiner Frau schon einen Kuss gegeben, Hut und Mantel genommen und das Haus durch die Hintertür verlassen. Als sie zu ihr sagten: »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn Daniel gefallen ist«, sah sie die beiden mit vor der Brust verschränkten Armen an, als würde sie erwarten, dass eine unsichtbare dritte Person zu einer langatmigen Erklärung ansetzte. Doch diese blieb aus, und nachdem die Männer ihre Pflicht mit all der Schicklichkeit und dem Anstand erfüllt hatten,
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