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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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entfalten begannen. Alle anderen waren verrückt vor Angst, aber ich weiß noch, dass ich vor allem Erleichterung verspürte. Ich hatte begriffen, dass ich nie wieder eine Entscheidung treffen musste. Das empfand ich einerseits als befreiend, andererseits nagte es schon damals an mir. Wie ich erst später feststellen sollte, ist Freiheit nicht das Gleiche wie offiziell beglaubigte Verantwortungslosigkeit.
    Als Murph zurückkehrte, taumelte er, so schwer war seine Ausrüstung. Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen erinnerte er an Sterling, doch im Gegensatz zum Sergeant war er weder groß noch muskulös. Er war zwar nicht dick, wirkte aber fast ungehörig klein und gedrungen. Die Linie von Sterlings Unterkiefer sah aus, als würde sie aus einem Geometrielehrbuch stammen, doch Murphs Gesichtszüge waren irgendwie schief. Sein Mund war wie zum Lächeln geschaffen, Sterlings nicht. Vielleicht war das, was ich da bemerkte, nur ein ewiges Gesetz: Manche Menschen sind außergewöhnlich, andere nicht. Sterling war außergewöhnlich, doch er schien damit zu hadern. Der Hauptmann stellte ihn uns mit den Worten vor: »Sergeant Sterling wird’s noch auf die verfluchten Rekrutierungsposter schaffen, Jungs. Wartet nur ab.« Nachdem sich die Formation aufgelöst hatte, lief ich an den beiden vorbei und hörte Sterling sagen: »Ich werde niemanden auffordern, dies zu tun, Sir. Niemals.« Und als er sich zum Gehen wandte, fiel mir auf, dass er keine jener Auszeichnungen auf der Brust trug, die der Hauptmann mit mühsam verhülltem Neid aufgezählt hatte. Jeder Krieg braucht eben auch ganz normale junge Männer.
    Nachdem wir seinen Kram im Spind verstaut hatten, setzte ich mich auf eines der unteren Betten, und Murph ließ sich mir gegenüber nieder. Die Helligkeit im Raum wurde durch die fluoreszierende Deckenverschalung noch verstärkt. Die vorhanglosen Fenster gaben den Blick frei auf Nacht und Schnee, den kreisrunden Lichtschein von Laternen und den roten Backstein anderer Kasernengebäude. »Woher kommst du?«, fragte ich.
    »Südwest-Virginia«, sagte er. »Und du?«
    »Aus einem Kaff bei Richmond.«
    Meine Antwort schien ihn zu enttäuschen. »Ach?«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass du auch aus Virginia bist.«
    Diese Tatsache irritierte mich irgendwie. »Klar«, erwiderte ich spöttisch. »Wir sind sozusagen verwandt.« Ich bereute meine Worte gleich nach dem Aussprechen. Aber ich wollte nicht für ihn verantwortlich sein. Ich wollte nicht einmal für mich selbst verantwortlich sein, aber dafür konnte er natürlich nichts. Ich begann, meine Ausrüstung auszubreiten. »Und was hast du in der Provinz so gemacht, Murph?« Ich putzte die Metallteile meiner Ausrüstung, die kleinen Knöpfe und die Haken für die Riemen, entfernte mit der Drahtbürste sämtliche Spuren von Rost und Dreck, die entstanden waren, während wir zur Vorbereitung auf den Kampf in der Wüste im Schnee gelegen hatten. Als Murph zu einer Antwort ansetzte, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass nur das absurd sein kann, was genügend Menschen viel zu ernst nehmen. Als ich ihn wieder ansah, hatte er gerade begonnen, Informationen zu seiner Person an den Fingern seiner kleinen rechten Hand aufzuzählen. Er verstummte schon vor dem Erreichen des Zeigefingers. »Tja, das war’s, schätze ich. Ist nicht viel.«
    Ich hatte gar nicht zugehört. Ich wusste, dass es ihm peinlich war. Er ließ den Kopf ein klein wenig hängen und holte seine Ausrüstung aus dem Spind, folgte meinem Beispiel. Wir waren eine Weile allein. Das Geräusch der Drahtbürsten auf grünem Nylon und kleinen Metallteilen erfüllte den Raum mit einem leisen Summen. Ich verstand Murph. Wenn man aus einer Gegend stammte, in der man durch ein paar dürre Fakten definiert wurde, wo ein paar Angewohnheiten das ganze Leben ausfüllen konnten, empfand man eine besondere Form von Scham. Wir hatten bescheidene Leben geführt, uns nach etwas gesehnt, das bedeutsamer war als schlechte Straßen und kleine Träume. Also waren wir zur Army gegangen, denn dort schien das Leben einfach, und man sagte uns, wer wir zu sein hatten. Nach getaner Arbeit gingen wir zu Bett, ruhig und ohne Bedauern.
    Die Tage verstrichen. Unser Aufbruch rückte näher. Das genaue Datum wurde von den Vorgesetzten geheim gehalten, doch es saß uns im Nacken. Der Krieg war auf einmal ganz gegenwärtig. Jeder von uns glich einem Bräutigam vor der Hochzeit. Wir trainierten auf verschneiten Feldern. Wir verließen in aller
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