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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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Wortes merken müssen, dass der Brief nicht von ihrem Sohn stammte, aber da sie nicht viele Briefe von ihm erhalten hatte, ging ich beim Schreiben des Briefes davon aus, sie problemlos täuschen zu können. Während der ersten siebzehn Jahre seines Lebens war Murph selten mehr als ein paar Meilen von ihr entfernt gewesen. Maximal fünf, in Luftlinie, denn das war der weiteste Weg, den sie auf ihrer Route zurücklegen musste, vielleicht auch sieben, die Tiefe mit eingerechnet, als er nach seinem Abschluss an der Bluefield Vocational and Technical School drei Monate in der Shipp Mountain Mine gearbeitet hatte. Im Herbst war er dann nach Fort Benning gegangen. Er war noch nie weiter von zu Hause weg gewesen. Er schrieb seiner Mutter abends ein paar Zeilen vor dem Lichtaus, schilderte den rötlichen Lehm und seine Freude daran, unter dem Sternenzelt Georgias zu schlafen, und wenn er genug Zeit hatte, brachte er das im Brief unter, was junge Männer wie wir gern schrieben – Beteuerungen, die nicht nur der Familie, sondern auch uns selbst galten. Sein restliches Leben verbrachte er mit mir. Gute zehn Monate, von dem Tag an gerechnet, als er im Rekrutierungsbüro in New Jersey neben mir auftauchte. Damals hatte es so stark geschneit, dass unsere Nebenmänner nur ein Flüstern im Schnee waren. Gute zehn Monate, von jenem Tag bis zu seinem Tod. Das ist vielleicht keine lange Zeit, doch sie hängt mir immer noch nach wie ein Streit, den man nicht beilegen kann, und manchmal kommt es mir so vor, als wäre mein Leben seither ein Irrweg.
    Früher glaubte ich, man müsste alt werden, um zu sterben. In gewisser Weise glaube ich das immer noch, denn während unserer gemeinsamen zehn Monate alterte Daniel Murphy tatsächlich. Vielleicht griff ich nach einem Stift und schrieb in seinem Namen einen Brief an seine Mutter, weil ich mir wünschte, dass wenigstens irgendetwas einen Sinn ergab. Ich hatte ihn lange genug gekannt, um zu wissen, dass es nicht seiner Art entsprach, seine Mutter mit »Mom« anzureden. Ich wusste vieles. Ich wusste, dass der Schneefall in den Bergen, in denen Daniel aufgewachsen war, sehr früh einsetzte, spätestens im November, manchmal schon im Oktober. Doch ich erfuhr erst später, dass seine Mutter den Brief bei Schnee gelesen hatte. Dass er auf dem Beifahrersitz lag, während sie ihren alten Jeep, rechts am Steuer sitzend, über das Auf und Ab der Serpentinen lenkte, tiefe Spuren durch das Weiß ziehend, das nachts zuvor die Welt bedeckt hatte. Und als sie über den langen, zu ihrem Haus führenden Schotterweg rumpelte, durch den Winterschlaf haltenden Obstgarten mit den Apfelbäumen, von denen Daniel so oft erzählt hatte, warf sie verstohlene Blicke auf den Absender, skeptische Blicke, die nicht zu einer Postbotin mit so langer Erfahrung passten, glaubte bei jedem Blick, etwas anderes zu lesen. Und als die Räder endlich stillstanden und der schwere Jeep noch ein Stückchen durch den Schnee rutschte, griff sie mit beiden Händen nach dem Brief und war einen Moment lang zutiefst glücklich.
    Früher hätte ich die Frage, ob der Schnee einen tieferen Sinn habe, vermutlich bejaht. Ich hätte der Tatsache, dass sowohl an dem Tag, als Murph in mein Leben getreten war, als auch an dem Tag, als ich mich in das Leben einmischte, das ihm genommen worden war, Schnee fiel, eine gewisse Bedeutung beigemessen. Ich wäre vielleicht nicht ganz davon überzeugt gewesen, hätte es aber gern geglaubt. Die Vorstellung, dass Schnee etwas Besonderes ist, gefällt mir, und genau das will man uns ja auch immer weismachen: Jede der Millionen und Abermillionen von Flocken ist anders, und so wird es sein bis in alle Ewigkeit, Amen. Durch das Fenster meiner Hütte habe ich gelegentlich beobachtet, wie die Flocken fielen, langsam wie die Federn einer geschossenen Taube. In meinen Augen sind sie alle gleich.
    Ich weiß, dass es schrecklich war, diesen Brief zu schreiben. Aber ich weiß nicht, welchen Platz er unter den vielen anderen schrecklichen Dingen einnimmt, über die ich nachdenke. Ich habe im Laufe der Zeit den Glauben an so etwas wie Sinn und Bedeutung verloren. Ordnung ist nur ein Schein, das Ergebnis eines Beobachtungsfehlers. Ich habe akzeptiert, dass es gewisse Konstanten im Leben gibt, dass es kein gottverdammtes Wunder ist, wenn an zwei Tagen das Gleiche passiert. Ich weiß nur eines: Diese beiden Waagschalen werden sich nie auf einer Höhe einpendeln, egal, wie lange ich lebe, egal, wie ich meine Zeit verbringe.
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