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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel
Autoren: Kevin Powers
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Worte. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er nicht doch verrückt war, aber dass er mutig war, stand für mich außer Frage. Heute weiß ich, wie groß Sterlings Mut war. Er war auf bestimmte Dinge begrenzt, aber hundertprozentig rein, ein ganz elementares Selbstopfer, frei von jeder Logik oder Ideologie. Er hätte sich anstelle eines anderen Mannes hängen lassen, und das nur, weil er glaubte, der Strick würde besser um seinen Hals passen.

    Und dann feierten wir. In der Sporthalle der Basis hatte man Banner aufgehängt und Klapptische aufgestellt. Wir nahmen vor den Augen unserer Familien Aufstellung und hörten uns die aufmunternde, aber auch ernste Rede des Bataillonskommandeurs über Pflichterfüllung an, und der Militärgeistliche würzte die düsteren Geschichten über unseren Herrn und Erlöser Jesus Christus mit ein wenig Humor. Wir aßen Hamburger und Pommes und waren bester Laune.
    Ich holte meiner Mutter einen Teller und setzte mich ihr gegenüber an den Tisch, mit etwas Abstand zu den vielen anderen Müttern, die an den Schultern ihrer Söhne hingen, den Vätern, die ihre Hände in die Hüften gestemmt hatten und wie auf Kommando lächelten. Sie hatte geweint. Sie legte selten Make-up auf, aber an jenem Tag verlief es unter ihren Augen. Sie hatte es auf ihren Handrücken geschmiert, als sie sich in unserem alten, auf dem Kasernenparkplatz stehenden Chrysler die Tränen abgewischt hatte.
    »Ich habe dich vor dem Militär gewarnt, John«, sagte sie.
    Ich biss die Zähne zusammen. Damals war ich noch jung genug für abgedroschene Gesten der Rebellion. Ich hatte sie zum ersten Mal mit zwölf erprobt und mich darin geübt, bis ich von zu Hause ausgezogen war. Ich hatte damals ohne ersichtlichen Grund die Nase voll gehabt und das erste und einzige Taxi bestellt, das je unsere lange, mit Kies bedeckte Einfahrt hinaufgefahren war. »Ich habe es trotzdem getan, Ma.«
    Sie schwieg und holte tief Luft. »Ja. Ich weiß«, sagte sie. »Entschuldige. Versuchen wir einfach, uns zu amüsieren.« Sie lächelte und tätschelte meine auf dem Tisch liegenden Hände, und Tränen traten ihr in die Augen.
    Wir amüsierten uns tatsächlich. Ich war erleichtert. In der Nacht vor dem Schießen hatte ich schlaff dagesessen und alle vor mir liegenden Möglichkeiten durchdacht. Ich war zu der Gewissheit gelangt, dass ich sterben, dann überzeugt davon, dass ich überleben, dann, dass ich verwundet werden würde, und am Ende war jede Gewissheit verflogen. Ich sah aus dem Fenster, suchte nach einem Zeichen im Schnee oder im Laternenschein. Mehr konnte ich nicht tun, um nicht auf den kalten Fliesen auf und ab zu laufen. Die Ungewissheit blieb. Und die Angst, dass meine Mutter einen Sohn würde begraben müssen, der, wie sie glaubte, immer noch wütend auf sie war. Dass sie, die Flagge in der Hand, zuschauen musste, wie man ihren Sohn in die braune Erde Virginias senkte. Dass sie die in rascher Folge abgefeuerten Gewehrsalven daran erinnern würden, wie ich, sie hatte damals hinten auf dem Hof Geißblatt vom Zaun gepflückt, mit achtzehn die Tür hinter mir zugeknallt hatte.
    Ich ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen und meine Mutter zu verabschieden. Als ich sie auf die Wange küsste, überraschte es mich, wie stürmisch ich war. »Du solltest damit aufhören«, sagte sie.
    »Ich weiß, Ma. Werde ich auch.« Ich trat die Kippe aus. Sie umarmte mich, und als ich ihre Haare und ihr Parfüm roch, hatte ich plötzlich meine ganze Jugend vor Augen. »Ich schreibe dir so bald wie möglich, okay?«
    Sie trat langsam zurück, winkte noch einmal, wandte sich ab und ging dann zum Auto. Ich weiß noch, dass ich den Rücklichtern nachsah, die immer kleiner wurden, als sie am Sportplatz vorbeifuhr und zum Wachhäuschen am Ausgang der Basis abbog. Dann war sie verschwunden. Ich zündete mir noch eine Zigarette an.
    Zu jenem Zeitpunkt waren bis auf Murphs Mutter und einige andere, mir unbekannte Leute fast alle Familien abgefahren. Murph führte seine Mutter an der Hand durch die Sporthalle, blieb vor jeder Gruppe stehen und ging dann weiter. Ich begriff erst, dass er mich suchte, als er in meine Richtung sah und etwas zu seiner Mutter sagte. Ich erhob mich vom Stuhl, während sie über die Spielfeldlinien auf mich zukamen.
    Mrs LaDonna Murphy umarmte mich fest, nachdem ich ihr vorgestellt worden war. Sie war klein und auf wettergegerbte Art zerbrechlich, aber jünger als meine Mutter. Sie musterte mich, ohne ihre Umarmung zu lösen,
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