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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns
Autoren: Peter S. Beagle
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die drückend heiße kalifornische Nacht. Manchmal glaubte sie sogar, ein zweites Horn zu hören, das wie Tante Isabels Katze wild die Melodie umspielte. Hin und wieder hätte sie schwören können, daß es ein ganzes Dutzend Melodien war, die zeitweilig miteinander harmonierten, dann wieder konkurrierten, nach ihrem Herz griffen und ihren Atem stocken ließen. Die Musik, die ich in meinem Kopf höre, immer, mein ganzes Leben schon, die Musik, für die ich keinen Namen finde…
    Die Straßen unter dem orangefarbenen Halbmond waren leer, bis auf ein paar Autos, die sie einige Blocks entfernt hören konnte, weil ihre Radios zwischen den Häusern hallten. Seltsamerweise gelang es ihnen nicht, die Musik zu verdrängen, selbst wenn sie so nah kamen, daß die Fahrer sie mustern, ihr etwas Beleidigendes zurufen und davonrasen konnten. Joey schenkte ihnen keinerlei Beachtung, sondern eilte vorwärts, bog nach links oder rechts ab, wenn die Musik in einer bestimmten Straße näher klang. Die Klänge verstummten nicht mehr, doch wurden sie so ungleichmäßig leiser und lauter, daß sie ihre ganze Aufmerksamkeit brauchte, um deren Quelle auszumachen. Aus diesem Grund entging es völlig ihrer Aufmerksamkeit, an welcher Stelle sie eigentlich zum ersten Mal die Grenze überschritt.
    Dort graute der Morgen, auf der anderen Seite. Von einem Schritt zum nächsten graute der Morgen.
    Joey hielt mit dem einen Fuß in der Luft inne, kurz bevor er sich senken wollte. Ganz langsam senkte sie ihn herab, nicht auf Asphalt, sondern auf eine kühle, frühlingshafte, farnbewachsene Wiese am Morgen. Lange sah sie auf ihre Füße im Gras hinab, dann hob sie den Kopf und blickte zu einem Himmel auf, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Es mochte der Himmel über einem anderen Planeten sein. Nicht wegen seiner Farbe oder der Form dieser aprikosenfarbenen Rüschenwolken, sondern weil sie ihn durch eine Luft betrachtete, die so klar war, daß alles etwas heller und näher wirkte, als es in Wirklichkeit war. Fast schien es Joey, als hätte sie die aufgehende Sonne zum Frühstück pflücken und auspressen können.
    Die vertrauten Vorstadtstraßen waren ausnahmslos verschwunden. Sie stand auf einer flachen Anhöhe, umgeben von hohen, blauen Bäumen, die sich in drei Richtungen erstreckten. Die Bäume sahen aus wie Eichen, soweit Joey überhaupt etwas über Bäume wußte, doch waren ihre Blätter von noch dunklerem Blau als der Himmel selbst, es war die Farbe von Indigos Augen, an die sie plötzlich denken mußte. Jenseits der Bäume erspähte sie in der einen Richtung grüne Hügel – die emporstiegen –, den schwachen Glanz der Sonne über einer Wasserfläche in einer anderen, und in der dritten eine strahlende Weite mit Weideland, sanft, mit wilden Blumen. Was das Wort »wild« an diesem Ort auch bedeuten mag. Keine Häuser, keine Straßen, keine Menschen irgendwo. Vielleicht ist alles hier wild.
    Es war die Musik, die sie davon abhielt, sich zu fürchten. Die Musik war nun überall, deutlich näher, dennoch war es unmöglich, sie an einem Ort festzumachen. Sie wogte und ebbte unablässig, selbst hier, freudig und unberechenbar, schien zwischen Steinen hervorzublubbern wie die Stimme einer Quelle, aus Gras und Erde hervorzuzirpen wie spielende Insekten, wie Regen auf sie herabzutaumeln. Bis auf die Musik blendete sie alles aus, wollte später auf alles reagieren, darauf eingehen, sah sich eilig um, schlug verschiedentlich die falsche Richtung ein und beschloß zuletzt, von den Bäumen weg und in die Wiese hinein zu gehen. Dort kann ich sie besser hören, mich besser auf sie konzentrieren. Ich werde sie finden. Sie möchte, daß ich sie finde.
    Sie wanderte in die Wiese hinein, folgte der Musik durch meeresgrünes, kniehohes Gras und blieb immer wieder stehen, um Blumen zu betrachten, die wie lange orangefarbene Zungen oder schimmernde Ebenholzknöpfe aussahen, als die Musik urplötzlich abbrach. Der Schreck war fast schon körperlich: Sie wirbelte herum, starrte wild in alle Richtungen. Schwer und kalt wie eine Schlange fiel ein Schatten auf ihren Nacken.
    Die weite Wiese selbst schien sich zurückzuziehen, kroch in alle Richtungen von ihr fort, verdunkelte sich, wohin sie auch blicken mochte, ließ sie – wie schrecklich – ungeschützt mit dem zurück, das sie nicht begreifen konnte. Der Schatten bewegte sich zu schnell und flog zu hoch über ihr hinweg, und so nahm sie lediglich wahr, daß es sich um eine Unmenge kleiner, fliegender Wesen
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