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Die Signatur des Mörders - Roman

Titel: Die Signatur des Mörders - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Verstand die Möglichkeiten herunter. Der Akku war leer, er führte Dauergespräche, das Handy war ausgeschaltet, es gab keinen Empfang.
    »Immer noch nichts?«, fragte Ron. »Mann, das habe ich noch nie erlebt, dass er nicht ans Handy geht. Der ist doch normalerweise süchtig nach dem Ding.«
    »Du meinst, das ist Absicht?«, fragte sie ungläubig.
    Ron gab keine Antwort, sondern schoss mit Vollgas über den Alleenring. Myriam verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass er durch eine Innenstadt raste, deren Verkehr kurz vor dem Kollaps stand. Umso seltsamer, dass alle Ampeln plötzlich auf Grün sprangen.
    Wie hatten sie all das übersehen können? Wer hatte den entscheidenden Fehler gemacht? Die Antwort lag nahe. Ihr oblag die Verantwortung, Gleichgültig, welchen Schaden ein Kevin Wagner anrichtete, gleichgültig, welche Entscheidung irgendwann Kellermann getroffen hatte.
    Immer wieder hatte Ron darauf hingewiesen, sie sollten sich nicht von psychologischen oder - schlimmer - fantastischen Spekulationen leiten lassen. Sie mussten sich an die Fakten halten.
    Die Grundlage von Ermittlungen war systematisches Vorgehen: Informationen sammeln, Sachbeweise erfassen, Zeugen suchen. Aber sie hatten es besser gewusst und selbstverliebt unbewiesene, haltlose Hypothesen aufgestellt. Nur so konnten sie David und Simon übersehen. Sie hatten die beiden lediglich als Komparsen betrachtet. So verständlich dies in Simons Fall auch war, so unverzeihlich schien es, wenn es um David Hus ging.
    Sie stellte sich David vor, wie er in dem Krankenhausbett gelegen hatte. Eine schmale blasse Gestalt mit unnatürlich geweiteten Augen. Das Keuchen, das aus seinem Brustkorb kam. Nein, sie wollte es nicht glauben, aber sie konnte auch die Hinweise nicht ignorieren: das Drahtseil, die Fotos von der Ballettaufführung, die Möglichkeit, an medizinisches Material zu kommen.
    »Ist ein Junge von sechzehn Jahren fähig, sich so etwas auszudenken?«
    Ron lachte bitter. »Auszudenken, ja! Doch ist er hart genug, es auszuführen? Besitzt er ausreichende Kaltblütigkeit, uns alle zu täuschen?«
    »Ich sehe kein Motiv«, stellte Myriam fest.
    »Und wenn es keines gibt? Oder eines, das sich unseren Kategorien entzieht? Das Verhältnis zwischen den beiden. Sie verbringen Tag und Nacht miteinander. Weißt du, was das bedeutet? Irrsinn hoch zwei. Wahnsinn zum Quadrat.«
    »Sie halten einfach zusammen aus Angst vor der Isolation«, sagte Myriam. »Vor der Einsamkeit, vor dem Gefühl der Verlassenheit.«
    Ron blinkte. »Wie der Vater, so der Sohn.«
    »Was?«
    »Sie schlafen in einem Bett«, erklärte Ron und steuerte den Wagen in eine der Seitenstraßen, in denen der Verkehr ruhiger lief, doch jeden Moment ein Fußgänger auf die Straße treten konnte. »Was meinst du denn, was das bedeutet? Männerfreundschaft?«
    Der erste Tatort lag immer in der Seele eines Täters. War dies auch bei David so gewesen? Lag die Wahrheit hinter der Mauer seines Schweigens? Hielt er sie wie in einer Zeitkapsel verschlossen, die er in seinem Innern aufbewahrte? Würde er das Schweigen je brechen, um ihnen seine Botschaft zu erklären?
    Ron schoss hinter einem schrottreifen Golf über eine Ampel, die in diesem Moment auf Rot schaltete. Myriam war nicht sicher, ob das mit voller Absicht geschah, oder ob er sie schlichtweg übersehen hatte. Ihr Fuß trat auf eine imaginäre Bremse. Auch weil sie Zeit gewinnen wollte. Zeit, in der sie sich darauf einstellen konnte: Sie musste sich der Wahrheit stellen.
    »Wir sind da«, sagte Ron. Er ließ den Wagen vor dem Haus ausrollen, und als er zum Stehen gekommen war, blieben sie einen Moment sitzen, als seien sie zu früh angekommen, anstatt zu spät.
    »Was, wenn niemand da ist?«, fragte Myriam.
    »Was, wenn jemand da ist? Wir können es uns nicht leisten, lange zu überlegen«, erwiderte Ron und öffnete die Tür.
    Sie stiegen aus. Ron ging voran, ruhig und konzentriert. Er war nicht immer so.
    Myriam folgte ihm nervös und angespannt. Sie wusste nicht, ob es die Angst war, ihr Verdacht könne sich als falsch erweisen, oder genau das Gegenteil.
    Milan Hus’ Haus lag idyllisch in der Finkenhofstraße, in einer Reihe von für das Nordend typischen, spätklassizistischen Stadthäusern. Seit seinem Selbstmord stand es leer. Daher war es nicht überraschend, dass niemand öffnete, dennoch empfand Myriam Verwirrung. Oder war es Enttäuschung? Sie hatte gedacht, sie wären der Lösung greifbar nah, und nun standen sie vor einer
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