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Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Die Seidenweberin: Roman (German Edition)

Titel: Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Autoren: Ursula Niehaus
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sie nicht bei Sinnen gewesen sein musste. Was war geschehen?
    Dann plötzlich war die Erinnerung wieder da und traf sie wie ein Fausthieb: Peter war tot. Die Vorstellung nahm ihr den Atem. Kurz wuchs in ihr die widersinnige Hoffnung, dass es ein besonders grauenvoller Albtraum oder eine Fieberwehe gewesen sein konnte, die sie gepeinigt hatte, doch tief in sich spürte Fygen die grausame, kalte Gewissheit, dass es wirklich geschehen war. Dass das Schlimmste eingetreten war, das sie sich überhaupt hatte vorstellen können: Peter, ihr geliebter Mann, war tot.
    Wie lange schon? Sie hatte nicht gemerkt, wie man sie von Peters Leichnam fortgezerrt und nach Hause gebracht hatte. Wie lange lag sie wohl schon in ihrer Kammer? Einen Tag? Eine Woche? Fygen schob die Decke zur Seite. Sie fror erbärmlich, dennoch stand sie auf. Mechanisch wusch sie sich und kleidete sich an. Dann ging sie auf schwachen Beinen in die Werkstatt hinunter. Bei ihrem Eintreten verstummten das muntere Geschnatter der Lehrmädchen und das Klappern der Webstühle. Aller Augen wandten sich ihr zu, und Fygen las in den Gesichtern, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Es war kein Albtraum oder Fieber gewesen.
    Kurz nickte sie den Frauen zu, dann ging sie an ihnen vorbei in ihr Kontor und schloss die Tür hinter sich. Wie an jedem Morgen ließ sie sich hinter ihrem Pult nieder und schlug aus Gewohnheit das große Rechnungsbuch auf.
    Hier saß sie nun wie gewohnt in ihrem Kontor, alles sah aus wie immer, auch die Zahlen in ihrem Buch waren dieselben. Fast konnte Fygen sich vorstellen, dass Peter wie so oft auf Reisen wäre und bald, sehr bald zurückkehren würde.
    Eine kraftlose Wintersonne warf ihr Licht durch das Fenster herein. Wie konnte ein neuer Tag beginnen? Wie konnte die Sonne scheinen, jetzt, wo Peter tot war. Fygen konnte sich nicht vorstellen, dass das Leben einfach weitergehen könnte ohne ihn. Peter würde heute Abend nicht mit ihr gemeinsam essen. Er würde nicht mit ihr scherzen oder über seine Geschäfte sprechen. Ja, es würde so sein, als wäre er auf Reisen. Nur dass er nie mehr zurückkehren würde. Nie wieder würde er bei seiner Heimkehr mit großen Schritten auf sie zueilen, sie ungestüm in seine Arme schließen und dabei fast erdrücken. Nie wieder …
    Tränen liefen Fygen über das reglose Gesicht, und mit äußerster Kraft versuchte sie, sich von den traurigen Gedanken loszureißen. Sie wusste, sie durfte sich ihnen nicht länger hingeben, wollte sie nicht gänzlich und unwiederbringlich in ihnen versinken. Mit Gewalt zwang sie ihren Blick auf das offene Buch vor sich und machte sich daran, ihre wöchentliche Abrechnung fertigzustellen.
    Nach einer kurzen Weile klopfte es zaghaft an die Tür des Kontors. Fygen antwortete nicht. Sie wollte niemanden sehen.
    Die Tür öffnete sich trotzdem, und Lisbeth betrat den Raum. Fygen ließ die Feder sinken und blickte ihrer Tochter ins Gesicht. Lisbeth war ungewöhnlich blass und hatte dunkle Schatten unter den geröteten Augen. Auch sie hatte Peters Tod sehr mitgenommen. Dazu war noch ihre Sorge um die Mutter gekommen, erkannte Fygen schuldbewusst. Angestrengt bemühte sie sich um Haltung. Wenigstens um sie sollte Lisbeth sich nun nicht mehr sorgen müssen. Gerne hätte sie ihre Tochter gefragt, wie viel Zeit vergangen war seit Peters Tod, wie lange sie nicht Herr über ihre Sinne gewesen und in ihrem Zimmer gelegen hatte. Doch Fygen traute ihrer Stimme noch nicht, und so schaute sie Lisbeth nur fragend an.
    Diese deutete den Blick richtig. »Eine und eine halbe Woche«, sagte sie.
    Fygen nickte. »Und die – Beerdigung?« Es fiel ihr unendlich schwer, das Wort über die Lippen zu bringen.
    »War sehr prächtig.« Lisbeth biss sich auf die Lippen. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Der ganze Rat der Stadt, die Zunft, die Gaffel, die Fernkaufleute. So viele waren es.«
    Fygen nickte abermals. Es gab nichts weiter dazu zu sagen. Nach einer Weile verließ Lisbeth leise das Kontor.
    Als es dämmerte, entzündete Fygen einen Leuchter und setzte ihre Arbeit bei Kerzenlicht fort. Sie saß über ihren Büchern, bis spät am Abend ihre Kräfte nachließen, dann ging sie zurück in ihr Bett.

    An den folgenden Tagen arbeitete Fygen von früh bis spät. Ihre Arbeit war das Einzige, was sie vorübergehend von ihrem Schmerz abzulenken vermochte. Solange ihre Kraft reichte, war sie abwechselnd in ihrem oder Peters Kontor zu finden, bis sie spät in der Nacht todmüde in ihr Bett fiel. Wie
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