Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine
Autoren: Kate Furnivall
Vom Netzwerk:
würde ich stehlen.«
    Auf dieses Thema ging er nicht ein. An die Zeit, als sie Geldbörsen und Taschenuhren entwendet hatte, so wie ein Fuchs Hühner aus dem Stall klaut, wollte er lieber nicht zurückdenken.
    »Nein«, sagte er, »aber du hast ihnen da unten etwas genommen, für das sie dir nicht dankbar sein werden.«
    Lydia zuckte mit ihren schmalen Schultern und wandte sich wieder ihren Münzhäufchen zu. »Ich hab ihnen ihr Geld abgeknöpft, weil sie verloren hatten.«
    »Nicht das Geld.«
    »Was meinst du?«
    »Ihren Stolz. Du hast ihnen ihren Stolz genommen und sie noch dazu mit der Nase darauf gestoßen, indem du ihre Taschen erleichtert hast.«
    »Das ging alles mit rechten Dingen zu.«
    »Mit rechten Dingen«, äffte er sie nach. »Von wegen.« Wütend schüttelte er den Kopf, hielt dabei jedoch seine Stimme gesenkt und wählte seine Worte mit Bedacht. »Darum geht es hier nicht, Lydia.«
    »Worum geht es dann?«
    »Sie werden dich nicht vergessen.«
    Ein Lächeln schimmerte auf ihren vollen Lippen. »Und?«
    »Und wenn jemand anfängt, Fragen zu stellen, werden sich die Leute mit Freuden an jede Einzelheit von dir erinnern. Nicht bloß an die Farbe deines Haares oder daran, wie viel Wodka du Popkow eingeflößt hast, auch nicht nur an deinen Namen, dein Alter oder die Namen deiner Mitreisenden. Nein, Lydia. Sie werden sich an die Nummer deines Passes und deiner Reisegenehmigung erinnern, und sogar daran, welche Zugfahrkarte du in deinem Geldgürtel versteckt hältst.«
    Sie riss die Augen auf, und auf ihren Wangen breitete sich eine tiefe Röte aus. »Wieso sollten sie sich die Mühe machen, sich an all das zu erinnern? Und wer würde danach fragen?« Plötzlich lag ein Ausdruck der Nervosität in ihren Augen. »Wer, Alexej?«
    Er stieß sich mit den Schultern von der Tür ab und brauchte nur einen halben Schritt bis zu dem Bett, wo er neben ihr Platz nahm. Die Matratze war hart wie ein Brett, und die drei Münztürme auf ihrem Schoß gerieten ein wenig ins Wanken, als er sich setzte.
    Sie schenkte ihm ein überraschtes Lächeln, doch ihr Blick war argwöhnisch. »Was?«
    Er beugte sich zu ihr, so nahe, dass er das leise Klappern ihrer Zähne hinter dem weichen Schwung ihrer Wange hören konnte. »Erstens, sprich leise. Die Wände hier sind dünn wie Papier. Das sind sie nicht einfach deshalb, weil man Material sparen wollte, sondern sie müssen so sein.« Jetzt war seine Stimme nur noch ein feines Säuseln in ihrem Ohr. »Damit jeder jeden belauschen kann. Ein Nachbar kann dich jederzeit verpfeifen, selbst wenn du dich nur über die Brotpreise oder das mangelhafte Funktionieren des Eisenbahnsystems beschwerst.«
    Wieder warf sie ihm diesen aufmüpfigen Blick zu und rollte so dramatisch mit den Augen, dass er fast laut aufgelacht hätte, den Impuls jedoch mit einem Stirnrunzeln unterdrückte.
    »Verdammt noch mal, hör mir zu, Lydia.«
    Sie nahm seine Hand, umfasste einen der Geldtürme auf ihrem Schoß und ließ die Münzen in seine offene Handfläche fallen.
    »Ich will dein Geld nicht«, sträubte er sich.
    Doch sie schloss sanft seine Finger um das kleine Häuflein, einen nach dem anderen.
    »Behalt’s«, flüsterte sie. »Eines Tages wirst du es vielleicht brauchen.«
    Mit diesen Worten wandte sie ihm ihr Gesicht zu und küsste ihn auf die Wange. Ihre Lippen fühlten sich federleicht und warm an. Ihm wurde die Kehle eng. Es war das erste Mal, dass es zwischen ihnen zu einer so vertrauten Geste kam. Mittlerweile kannten sie sich seit achtzehn Monaten, von denen sie den weitaus größten Teil nicht gewusst hatten, dass sie Geschwister waren, und an jenem schrecklichen Tag im Wald außerhalb von Tschangschu hatte er sogar ihren splitterfasernackten Körper zu sehen bekommen. Aber ein Kuss – das niemals.
    Er stand etwas unbeholfen auf. Plötzlich schien ihm das Zimmer viel zu klein, und abgesehen von dem leisen Schnarchen einer Frau im Zimmer nebenan war es auch ganz still.
    »Lydia, ich versuche einfach, dich zu beschützen.«
    »Ich weiß.«
    »Warum machst du mir dann alles so … so schwer?«
    »Schwer?«
    »Ja. So verdammt schwer. Als tätest du es mit Absicht.«
    Sie zuckte mit den Achseln, und er betrachtete sie eine Weile – ihre wilde Haarmähne, die zu schneiden sie sich weigerte, das zarte, herzförmige Gesicht mit der wachsblassen Haut und dem entschlossenen Kinn. Sie war siebzehn Jahre alt, das war alles. Er musste ihr so vieles begreiflich machen, aber er wusste auch, dass sie schon vor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher