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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale
Autoren: Charles Palliser
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verantwortlich machte. Als ich zehn Minuten später wieder hinunter in die Küche ging, fand ich Austin beim Zwiebelschneiden. Er ließ seinen Blick rätselhaft lächelnd an mir entlangwandern und sagte nach ein paar Sekunden: »Wo ist mein Geschenk?«
    »Wie dumm von mir. Ich habe es aus der Tasche genommen und auf mein Bett gelegt, um es nicht zu vergessen. Ich gehe hinauf und hole es.«
    »Hol es später. Geh jetzt zur Kathedrale. Das Abendessen ist in zwanzig Minuten fertig.«
    Ich folgte seinem Rat. Als ich wenig später draußen auf dem Domplatz stand, sah ich ein paar Leute vom Portal des südlichen Querschiffs forteilen, das sich fast direkt gegenüber von Austins Haus befand. Der Abendgottesdienst war offenbar gerade zu Ende. Ich trat ein und ließ die schwere Tür hinter mir zuschwingen, bevor ich die Augen hob und nach vorne schaute, um die Erregung zu genießen, die mich jedesmal erfaßte, wenn ich zum ersten Mal ein altes Gebäude betrat.
    Als ob er auf meine Ankunft gewartet hätte, ertönte plötzlich der Gesang eines Chores – der reine Sopran der Knaben schwebte über den tieferen Stimmen der Männer in einer Harmonie, die der Wirklichkeit entrückt zu sein schien. Die Stimmen klangen gedämpft, und ich hatte keine Vorstellung, wo die Chorsänger sich befanden. Es überraschte mich, daß sie so spät noch sangen.
    In dem gewaltigen Bauwerk war es fast dunkel, und es war auch kalt, fast kälter, so schien mir, als draußen auf dem Domplatz. Ein abgestandener Geruch nach Weihrauch hing in der Luft. Mir fiel ein, daß der Dekan der Kathedrale zur High Church tendierte. Mit gesenktem Blick schritt ich über die steinernen Bodenplatten, die in der Mitte so abgetreten waren, daß ich das Gefühl hatte, über eine Reihe flacher Teller zu gehen. Als ich in der Mitte des Gebäudes ankam, blickte ich auf, so daß sich das Kirchenschiff in seiner ganzen gewaltigen Länge plötzlich vor mir ausdehnte. Die dicken Säulen erhoben sich wie ein steinerner Wald, dessen Stämme allmählich in die zarten Rippen des Gewölbes übergingen. Weit von mir entfernt verfing sich das Licht der Gaslampen in den unregelmäßigen Glasscheiben der großen Rosette, die am Westende schimmerte wie ein dunkler See unter einem wolkenverhangenen Mond. Die wenigen Lampen ließen die hoch aufragenden Bögen um so gewaltiger wirken. Als ich mich daran sattgesehen hatte, legte ich den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zu dem Gewölbe hoch über mir. Ein Duft nach frischem Holz wehte zu mir herüber, und ich stellte mir vor, wie vor siebenhundertfünfzig Jahren schwere Balken und riesige Steinblöcke durch diesen Raum vierzig Meter hoch in die Luft gehievt worden waren. Wie seltsam der Gedanke war, daß auch dieses uralte Bauwerk einmal aufsehenerregend neu gewesen war, als es bestürzend hoch über die niedrigen Dächer der Stadt hinauswuchs. Wie erstaunlich und wunderbar, daß es so viele Gefahren – die Rosenkriege unter Heinrich VI., die Zerstörung der Abtei anläßlich der Einziehung des Kloster- und Kirchenbesitzes unter Heinrich VIII. und die Beschießung während der Belagerung von 1643 – überstanden hatte.
    Die Stimmen der Sänger erstarben, es wurde still. Ich wandte mich um. Da fiel mein Blick auf eine unglaubliche Monstrosität: eine riesige, abscheulich häßliche neue Orgelempore, die in das Querschiff hineinragte. Mit ihren leuchtenden Orgelpfeifen, ihrem polierten Elfenbein und glänzenden Ebenholz sah sie aus wie eine gigantische Kuckucksuhr aus einem fiebrigen Alptraum.
    Und dann noch eine weitere Ungeheuerlichkeit: Ich vernahm rauhe, erhobene Stimmen, deren Ursprung ich in dem hallenden Raum unmöglich orten konnte. Als ich die Stufen zum Chor hinaufstieg, bemerkte ich ein Licht in der entferntesten Ecke. Ich hörte weitere Ausrufe und dann das helle Klingen von Spaten auf Stein. Das riesige Gebäude schien all diese Geräusche zu schlucken und langsam in sich aufzunehmen, so wie es seit fast acht Jahrhunderten die Freuden und Ängste von Männern und Frauen aufgenommen hatte. Ich ging um das Chorgestühl herum und fand drei Handwerker bei der Arbeit – oder, besser gesagt, zwei Männer, die arbeiteten, und einen, der ihnen Anweisungen erteilte. Ihr Atem stand sichtbar im Licht zweier Laternen, von denen sich die eine auf dem Fußboden befand, während die andere respektlos auf dem Grabmal eines Bischofs abgestellt worden war.
    Die Arbeiter, die einige der großen Bodenplatten aufgehoben hatten, waren jung und
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