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Die schwarze Hostie

Die schwarze Hostie

Titel: Die schwarze Hostie
Autoren: Birgit Kluger
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Wesens, den er kontrollieren musste.
    Es würde nicht einfach werden, aber er schaffte das. Ganz sicher.
     

     
    Eigentlich müsste hier längst ein Trampelpfad zu sehen sein. Der Gedanke zauberte ein ironisches Lächeln auf ihre Lippen. In ihrem Zimmer auf und ab zu laufen, schien in den letzten Tagen ihre Hauptbeschäftigung zu sein. Sehr viel mehr konnte sie ohnehin nicht tun. Die Gefangenschaft nahm ihre Gedanken in Anspruch. Sie konnte sich weder auf ein Buch noch auf Fernsehfilme oder Musik konzentrieren.
    Zuerst war sie irritiert gewesen. Dann wütend. Ihr Onkel hatte kein Recht, sie so zu behandeln. Seit Tagen formulierte sie ihre Anklage, aber es gab niemanden, der ihr zugehört hätte. Torsten Halder mied ihre Gesellschaft. Seit jenem Sonntag, an dem sie ihre Entscheidung verkündet hatte, war sie von jedem menschlichen Kontakt abgeschnitten. Ihr Essen wurde vor die Tür gestellt. Rosco ließ es zu, dass sie es hereinholte. Mehr aber war nicht möglich. Jeden Tag hoffte sie, er ließe in seiner Wachsamkeit nach, aber diesen Gefallen tat er ihr nicht.
    Das Sonnenlicht blendete ihre Augen, als sie zum wohl hundertsten Mal am Fenster stand und überlegte, wie sie es schaffen könnte, aus dem dritten Stock unbeschadet nach unten zu kommen. Sie hatte ihre Bettwäsche verknotet, nur um festzustellen, dass ägyptisches Leinen nicht dafür gemacht war, als Seil missbraucht zu werden. Schon ein sachter Zug an ihrer selbst gefertigten Konstruktion reichte, um es zu zerreißen.
    Ein weiterer Fehlschlag. Aber sie durfte nicht aufgeben. Je mehr Tage vergingen, desto schwieriger würde es sein, ihre Pläne zu verwirklichen, und dann war da noch Alexander. Der Fremde, dem sie helfen musste. Wenn sie nur wüsste, wie.
    „Ach, verdammt.“ Sie drehte sich vom Fenster weg. Es war aussichtslos. Sie war nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen. Wieder stieg Alexanders Bild in ihr auf. Wie er sich in Schmerzen wand, schrie. Und dann dieser Blick direkt in ihre Augen, so als wolle er ihr etwas mitteilen. Sie musste ihm helfen. Es war unmöglich, es nicht zu versuchen.
    Wenn sie nur wüsste, wo er sich befand. Obwohl sie nicht gerne daran dachte, rief sie sich noch einmal die Erinnerung an ihren Traum ins Gedächtnis. Dieses Mal konzentrierte sie sich auf seine Umgebung. Versuchte, das Bild der hilflosen Gestalt in den Hintergrund zu drängen. Eine Zelle. Etwa neun Quadratmeter groß, der Ort kam ihr bekannt vor. Sie war sich sicher … Das Traumbild verschwamm vor ihren Augen. Es wurde unscharf, der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken, und die Wände drehten sich mit einem Mal in einem wilden Tanz. Mit einem Aufschrei versuchte sie sich festzuhalten. Irgendwo. Aber ihre Finger griffen ins Leere.
     

7
    Sie lag auf dem Boden, als sie wieder zu sich kam. In ihrem Kopf jagte ein Wirbelsturm die Gedanken wie Herbstlaub vor sich her. Mit einem Stöhnen setzte sie sich auf. Sie war noch nie zuvor ohnmächtig geworden.
    „Für alles gibt es ein erstes Mal“, murmelte sie vor sich hin. Dann versuchte sie aufzustehen. Es ging. Gerade so. Übelkeit stieg in ihr auf, aber sie verdrängte das Unwohlsein, bewegte sich stattdessen einige Schritte auf den kleinen Tisch zu. Die kurze Distanz schien mit einem Mal sehr lang zu sein, dann aber hatte sie es geschafft. Mit einem Stöhnen ließ sie sich auf den Stuhl sinken. Endlich . Ihre Beine waren noch immer zittrig. Die Thermoskanne, die den Tee enthielt, den sie vor wenigen Stunden noch verweigert hatte, war mit einem Mal ein willkommener Anblick.
    Das heiße Getränk sandte etwas Lebenskraft durch ihre Adern. Das war besser. Viel besser.
    Für einen Augenblick schloss sie die Augen und genoss das Gefühl, ihren Körper zurückzugewinnen. Sie sollte etwas essen. Wahrscheinlich war sie ohnmächtig geworden, weil sie in den letzten Tagen kaum etwas zu sich genommen hatte.
    „So komme ich hier nie heraus“, schalt sie sich.
    Selbstgespräche. Der erste Schritt zum Wahnsinn. Mit einem Schulterzucken verdrängte sie diesen Gedanken. Es gab Wichtigeres, als über ihre geistige Gesundheit zu sinnieren.
    Essen. Das bedeutete, sie musste ihre Augen öffnen. Sich der Wirklichkeit stellen.
    Die Realität war anders als erwartet. Falsch. Sie war bereits verrückt, so viel war sicher. Anders konnte sie sich die Halluzination nicht erklären, die offensichtlich von ihr Besitz ergriffen hatten. Da, nur wenige Schritte von ihr entfernt, bewegte sich ein dunkler Schatten. Das
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