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Die schöne Kunst des Mordens

Titel: Die schöne Kunst des Mordens
Autoren: Jeff Lindsay
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»Das, das, das ist …«, stammelte sie.
    Und ein rascher Blick auf den Monitor bewies, dass Rita wieder einmal recht hatte: Das war es wirklich.
    Der Videoclip zeigte eine junge Frau in einem altmodischen Stripperinnenkostüm aus Flitter und Federn. Doch statt in sexuell aufreizender Pose, die diese Bekleidung verlangt hätte, stand sie mit einem Bein auf dem Tisch und senkte in einer kurzen, lautlosen Endlosschleife von ungefähr fünfzehn Sekunden eine surrende Tischkreissäge auf ihr Bein hinab und warf den Kopf zurück, den Mund vor Schmerz weit aufgerissen. Dann begann der Clip von vorn, und sie tat das Ganze erneut.
    »Allmächtiger«, sagte Rita. Sie schüttelte den Kopf. »Das, das ist irgendein filmischer Trick. Das
muss
ein Trick sein.«
    Ich war da nicht so sicher. Erstens hatte mir der Passagier zu verstehen gegeben, dass hier etwas sehr Interessantes vor sich ging. Und zweitens war mir der Gesichtsausdruck der Frau von meinen eigenen künstlerischen Bemühungen her ziemlich vertraut. Ich war ganz sicher, dass es sich um echten Schmerz, um reale, äußerste Agonie handelte – und doch hatte ich bei all meinen intensiven Forschungen nie jemanden getroffen, der bereit gewesen wäre, sich etwas in diesem Ausmaß anzutun. Kein Wunder, dass der Passagier einen Lachkrampf hatte. Nicht, dass ich es komisch gefunden hätte; sollten diese Dinge sich durchsetzen, musste ich mir ein neues Hobby suchen.
    Doch es war eine interessante Wendung, und unter normalen Umständen wäre ich überaus bereit gewesen, mir die übrigen Videoclips anzuschauen. Doch mir schien, dass ich eine gewisse Verantwortung für Rita trug, und dies hier gehörte definitiv nicht zu den Dingen, die sie betrachten und dennoch ihr sonniges Gemüt bewahren konnte.
    »Komm«, sagte ich. »Wir gehen irgendwo Nachtisch essen.«
    Doch sie schüttelte nur den Kopf, wiederholte: »Es
muss
ein Trick sein«, und trat zum nächsten Bildschirm.
    Ich gesellte mich zu ihr und wurde mit einer weiteren fünfzehn Sekunden andauernden Endlosschleife der jungen Frau im selben Kostüm belohnt. In dieser schien sie tatsächlich einen Streifen Fleisch aus ihrem Bein zu entfernen. Jetzt verriet ihre Miene dumpfe, endlose Agonie, als hätte der Schmerz lange genug gewährt, um sich daran zu gewöhnen, tat aber trotzdem noch weh. Seltsamerweise erinnerte ihr Ausdruck mich an das Gesicht einer Frau in einem Film, den Vince Masuoka anlässlich meines Junggesellenabschieds gezeigt hatte – ich glaube, er hieß »Rudelbumsen im Studentenwohnheim«. Auf ihrem Gesicht schimmerte durch die Erschöpfung und den Schmerz eine Art »Dir-hab-ich’s-gezeigt«-Befriedigung, während sie auf die fünfzehn Zentimeter große Stelle zwischen Knie und Schienbein starrte, an der das Fleisch bis zum Knochen abgeschält war.
    »O Gott«, murmelte Rita – und ging aus irgendeinem Grund zum nächsten Bildschirm.
    Ich gebe nicht vor, menschliche Wesen zu verstehen. Meist versuche ich, das Leben logisch zu betrachten, und dies ist gewöhnlich von Nachteil, wenn man herauszufinden versucht, was Menschen tatsächlich zu tun glauben.
    Ich meine, soweit ich das beurteilen konnte, war Rita wahrhaftig so reizend und freundlich und optimistisch wie Rebecca von der Sunnybrook Farm. Der Anblick einer toten Katze am Straßenrand konnte sie zu Tränen rühren. Und doch war sie hier und besichtigte methodisch eine Ausstellung, die eindeutig wesentlich schlimmer war als alles, was sie sich jemals vorgestellt hatte. Sie wusste, dass der nächste Clip noch mehr davon zeigen würde, unglaublich drastisch und beängstigend. Und trat dennoch gelassen zum nächsten Bildschirm, statt zum Ausgang zu spurten.
    Weitere Besucher traten ein, und ich beobachtete sie, während sie denselben Prozess von Erkenntnis und Schock durchliefen. Der Passagier freute sich eindeutig der Dinge, aber um vollkommen aufrichtig zu sein: Ich fand, dass sich die Sache allmählich abnutzte. Ich war nicht in der Lage, mich in eine dem Ereignis angemessene Stimmung zu versetzen und das Leiden des Publikums ein wenig zu genießen. Was sollte es denn auch? Okay, Jennifer schnitt sich Streifen aus dem Bein. Na und? Warum die Mühe, sich gewaltige Schmerzen zuzufügen, wenn das Leben dies mit Sicherheit über kurz oder lang ohnehin erledigte? Was bewies das? Was kam als Nächstes?
    Nun, Rita schien entschlossen, es sich so unbehaglich wie möglich zu machen, und schritt unerbittlich weiter von einer Videoschleife zur nächsten. Und mir
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