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Die schöne Kunst des Mordens

Titel: Die schöne Kunst des Mordens
Autoren: Jeff Lindsay
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ihre Augen noch immer so groß und leuchtend wie während des größten Teils der vergangenen Stunden. »Das war absolut unglaublich!« Und sie legte den Arm um mich und schmiegte sich an mich, als sei ich persönlich für die Schaffung des gesamten Museums verantwortlich. Das Gehen wurde dadurch ein wenig erschwert, doch gehört es nun einmal zu den Dingen, die man während der Flitterwochen in Paris tut, deshalb wehrte ich mich nicht, und wir schwankten über den Hof durch das Tor auf die Straße.
    Als wir um die Ecke bogen, trat uns eine junge Frau mit mehr Gesichtspiercings, als ich je für möglich gehalten hätte, in den Weg und drückte Rita einen Zettel in die Hand. »Und jetzt die wahre Kunst«, sagte sie. »Morgen Abend, ja?«
    »Merci«, sagte Rita verdutzt, und die Frau ließ uns stehen und verteilte die restlichen Zettel unter der abendlichen Menge.
    »Ich meine, sie könnte in der linken Hälfte noch ein paar Piercings vertragen«, bemerkte ich, während Rita stirnrunzelnd den Zettel musterte. »Und auf der Stirn hat sie auch eine Stelle ausgelassen.«
    »Oh«, sagte Rita. »Es ist eine Performance.«
    Nun war es an mir, verdutzt dreinzuschauen, und ich tat es. »Was?«
    »Oh, wie aufregend. Und wir haben morgen Abend noch nichts vor. Wir gehen hin!«
    »Gehen wohin?«
    »Das ist einfach perfekt«, sagte sie.
    Vielleicht ist Paris ja doch ein magischer Ort. Denn Rita sollte recht behalten.

2
    D ie Perfektion fand sich in Gestalt eines Ladenlokals namens
Réalité
in einer kleinen, schattigen Straße nicht allzu weit von der Seine, auf der
Rive Gauche,
wie Rita mich atemlos informierte. Wir hatten hastig zu Abend gegessen – und das Dessert ausgelassen! –, um rechtzeitig um 19.30 Uhr dort zu sein, wie der Zettel gedrängt hatte. Als wir eintrafen, waren bereits etwa zwei Dutzend Leute da, die in Grüppchen vor einer Reihe an den Wänden übereinandermontierter Flachbildschirme standen. Alles schien sehr galeriemäßig, bis ich eine der Broschüren aufschlug. Sie war in französischer, englischer und deutscher Sprache. Ich blätterte zu Englisch und begann zu lesen.
    Nach nur wenigen Sätzen spürte ich, wie meine Augenbrauen an meiner Stirn emporwanderten. Es handelte sich um eine Art Manifest, geschrieben mit rauher Leidenschaft, die sich nur schlecht übersetzen ließ, außer vielleicht ins Deutsche. Thema war die Erweiterung der Grenzen der Kunst in neue Wahrnehmungsbereiche, die Auslöschung der tyrannischen Trennung von Kunst und Leben, wie sie die verstaubte und kraftlose Akademie vorschriebe. Und obgleich Chris Burden, Rudolf Schwarzkogler, David Nebreda und andere Pionierarbeit geleistet hätten, sei es an der Zeit, die Mauer endlich einzureißen und ins einundzwanzigste Jahrhundert vorzudringen. Und heute Abend, mit einem neuen Werk namens »Jennifers Bein«, würden wir genau das tun.
    Alles extrem leidenschaftlich und idealistisch, eine Kombination, die ich stets als äußerst gefährlich betrachtet habe, und ich hätte mich ein wenig amüsiert – wenn nicht jemand anderes bereits amüsiert gewesen wäre, und das mehr als nur ein wenig; irgendwo tief in den Verliesen von Burg Dexter ließ der Dunkle Passagier ein leises, zischendes Kichern erklingen, und dieses Amüsement schärfte wie stets meine Sinne und ließ mich aufhorchen. Ich meine, im Ernst, der Passagier erfreute sich an einer
Kunst
ausstellung?
    Unter diesem neuen Aspekt sah ich mich in der Galerie um. Das gedämpfte Flüstern vor den Bildschirmen schien nicht länger die andächtige Stille im Angesicht der Kunst. Nun erkannte ich in ihrem fast vollständigen Schweigen einen Anflug von Ungläubigkeit und sogar Entsetzen.
    Ich sah Rita an. Sie runzelte die Stirn, während sie las, und schüttelte den Kopf. »Ich habe von Chris Burden gehört, er ist Amerikaner«, sagte sie. »Aber der andere, Schwarzkogler?« Sie verhaspelte sich bei dem Namen – schließlich hatte sie Französisch und nicht Deutsch gelernt. »Oh«, sagte sie und errötete. »Hier steht, er hat sich den eigenen …« Sie blickte auf und betrachtete die Leute im Raum, die schweigend auf die Bildschirme starrten. »O Gott«, stöhnte sie.
    »Vielleicht sollten wir gehen«, schlug ich vor, während das Vergnügen meines inneren Freundes kontinuierlich wuchs.
    Doch Rita stand schon vor dem ersten Bildschirm, und im nächsten Moment öffnete sich ihr Mund und zitterte leicht, als versuche sie erfolglos, ein besonders langes und schwieriges Wort auszusprechen.
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