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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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Zeit, die sich erfüllt hatte. Er lächelte und nickte mit dem Kopf.
      »Wann fahren Sie zurück?« fragte sie weich und streichelte wieder seine Hand.
      »Übermorgen, Frau Irma. Aber denken Sie nach über einen Besuch in nicht allzu ferner Zukunft. Ich will nicht in Sie dringen, aber…«
      »Das ist zwecklos«, unterbrach sie ihn, »Sie wissen selbst am besten, wie zwecklos das ist.«
      »Ich weiß«, antwortete er nach einer Weile. »Ich verstehe. Und kann mich immer noch nicht damit abfinden.«
    »Ich habe mich schon abgefunden.«
    »Sie haben das Recht dazu«, sagte er ungern. »Ich nicht.«
      »Warum? Was verbindet Sie mit diesen Menschen? Wieso die Solidarität mit denen dort, das Gefühl der Mitschuld?! Was haben Sie mit diesen Leuten gemeinsam?« Er hob die Schultern. »Dem Anschein nach nichts. Sie haben recht. Ich ertappe mich selbst dabei, daß ich bestimmte Dinge töricht aufnehme. Ich habe nichts mit ihnen gemeinsam, das stimmt! Außer einer Kleinigkeit. Ich bin dort, und sie sind auch dort.«
      »Aber Sie sind nicht für das verantwortlich, was die getan haben und weiter tun. Du lieber Gott, Herr Pawełek, man darf eine derartige Verantwortung nicht übernehmen.«
      »Übernehme ich sie denn?!« rief er aus. »Aber so einfach ist die Sache nicht. Sie wissen sehr genau, daß ich nicht verantwortlich bin, und hunderttausend Menschen wissen das auch. Doch die übrigen? Alle hier? Ich bin von dort, ich bin einer von ihnen. Vergessen Sie das nicht. Das ist ein Brandmal, mit dem ich gezeichnet worden bin. Außerdem…«
      Er unterbrach sich, nahm die Brille ab und fing an, die Gläser sorgsam zu putzen.
    »Was außerdem?« fragte sie. Er putzte weiter schweigend die Gläser.
      »Sprechen Sie's aus, Paweł. Um was für ein ›außerdem‹ geht es?«
    Er setzte die Brille auf und schaute sie lange an.
      »Und Sie, ehrlich gesagt und Gott zum Zeugen angerufen, fühlen Sie nicht ähnlich? Nicht die da haben Sie vertrieben, sondern Polen. So denken Sie doch.«
    »Absolut nicht!« entgegnete sie, und wußte, daß sie nicht ganz die Wahrheit sagte. Denn er hatte den Finger auf die gerissene Geige, auf ihre Wunde gelegt. Hätte sie auf der Avenue Kléber, als sie Paweł wachsam in die Augen blickte und ihrem eigenen, gerissenen Instrument lauschte, an den Tag der großen Angst gedacht, an den Tag nach dem Verlassen von Stucklers Käfig, hätte sie an den Gesang jener Vögel draußen vor ihrem Fenster gedacht, an Dr. Kordas Gesicht, an die bernsteingelben Vorhänge im Wohnzimmer, an den Geschmack der Milch, die sie trank, hätte sie an alles gedacht, was geschah, während sie sich anzog, flüchtig gekämmt wieder ins Zimmer trat und sich mit den Worten: »Gehen Sie noch nicht, es ist lieb, daß Sie sich in diesem Augenblick um mich kümmern«, an den klassischen Philologen wandte, und er selbstverständlich bereitwillig auf dem mit blaßgrünem Samt bezogenen Eschenholzstuhl sitzen blieb, um eine Viertelstunde lang über den Besuch des Rikschafahrers zu berichten, der ihm die Nachricht von Frau Gostomskas Festnahme unter dem absurden Vorwurf semitischer Abstammung überbrachte, wenn sie sich also in dem Café auf der Avenue Kléber an das alles erinnert hätte, hätte sie bestimmt diese schlichte, doch nie bewußte Wahrheit verstanden. Aber sie erinnerte sich nicht an die Vergangenheit, sondern nur an ihre Bruchstücke, an ihre Fragmente, wie an Sonnenlichtflecken, die durch eine dichte Baumkrone fallen. Dann hätte sie auch die banale Wahrheit verstanden, daß Stuckler sie gar nicht gedemütigt, daß sie sich damals keinen Augenblick lang gedemütigt, erniedrigt, ihrer Würde beraubt, geschändet gefühlt hatte, weil Stuckler sie nur töten wollte, daß aber jene, die Jahre später in ihr Arbeitszimmer kamen und ihr nicht erlaubten, die Mappe mit den Papieren mitzunehmen, ihr mehr geraubt hatten als das Leben, nämlich das Recht, sie selbst zu sein, das Selbstbestimmungsrecht.
      Sie kehrte in das Wohnzimmer zurück, draußen vor dem Fenster gurrte eine Taube. So wie auf der Terrasse des Cafés auf der Avenue Kléber. Doch beachtete sie die Vögel nie. Sie mochte Hunde, Katzen, vor allem Pferde. Die Vögel befanden sich in der Luft, sie stand auf der Erde. Sie beachtete die Vögel nicht. Nach einer Weile ging Dr. Korda endlich, und sie kehrte zurück ins Bett. Sie zog sich schnell aus, warf Kleid und Wäsche irgendwie auf den Stuhl und schob sich unter die Bettdecke. In Qual und
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