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Die schöne Betrügerin

Die schöne Betrügerin

Titel: Die schöne Betrügerin
Autoren: Celeste Bradley
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dieser Mr. Walters etwas zu verbergen. James hatte Walters Behauptung, ein Mann von zwanzig Jahren zu sein, keine Sekunde geglaubt. Ein Bursche dieses Alters war niemals völlig bartlos, so scharf sein Rasiermesser auch sein mochte.
    Nein, Mr. Walters war vielleicht sechzehn Jahre alt, eventuell sogar erst fünfzehn. Er war ein richtiges Klappergestell. Sicher, der Bursche litt Hunger – das hatte James sofort gesehen. Der arme Kerl war ja fast vor ihm zusammengebrochen.
    Er war so ausgehungert und verzweifelt, dass er hinsichtlich seines Alters gelogen hatte. James hätte ihn vermutlich allein schon deswegen eingestellt, selbst wenn der Junge über keine so bemerkenswerten Fähigkeiten verfügt hätte. James selbst hatte sich von seiner Zeit als darbender Gefangener auf einem französischen Schiff schnell erholt, aber er konnte sich gut erinnern, was es hieß, Hunger zu haben.
    »Latein«, murmelte James. Er lachte. »Tanz.«
    Immer noch vor sich hin grinsend, kehrte er ins Arbeitszimmer zurück. Robbie stand mitten im Zimmer auf dem Teppich und wartete auf ihn.
    James verspürte sofort jenes vertraute Unbehagen, das Robbies Anwesenheit mit sich brachte. Robbie schien immer irgendetwas von ihm zu wollen, doch James wusste nie genau, was es war.
    Als er beschlossen hatte, niemals zu heiraten, war ihm klar geworden, dass er nichtsdestotrotz einen Erben brauchte. Seine Schwester Agatha wollte die Besitzungen nicht und hatte seinem Vorhaben aus vollem Herzen zugestimmt. Die Mitglieder seines Clubs hatten Robbie, den ausgehungerten kleinen Kletterer aus der dubiosen Kaminkehrer-Bande, aufgenommen, nachdem der Junge Agatha das Leben gerettet hatte, und es schien vom Schicksal vorbestimmt, dass James den Waisenknaben adoptierte.
    Er hatte den Jungen als seinen Erben zu sich genommen, um ihm ein besseres Leben zu ermöglichen. Das gute Essen während der letzten Wochen hatte Robbies hohle Wangen gefüllt, und das sichere Zuhause hatte die herzzerreißende Vorsicht vertrieben, die seine Gesichtszüge einst gezeichnet hatte.
    Doch in seinen Augen lauerte, wie jetzt auch, immer noch ein Hunger, den James nicht zu stillen wusste. Er drehte den fordernden Augen den Rücken zu und trat hinter seinen – trennenden – Schreibtisch.
    Genau wie sein Vater es immer getan hatte. Den Bruchteil einer Sekunde konnte James die Düsternis, die Robbie umgab, fast greifen. Dann verwarf er die Idee. Sein eigener Vater – ein bekannter Gelehrter und Mathematiker – war immer abgelenkt und beschäftigt gewesen, aber James hatte nie darunter gelitten.
    Doch er hatte auch seine Schwester Agatha gehabt.
    Nun, Robbie würde ja von nun an Phillip haben. Keinen Bruder, aber doch eine Art Kamerad. Damit sollte die Angelegenheit erledigt sein, und Robbie würde damit aufhören, James so anzusehen.
    James verspürte plötzlich den überwältigenden Wunsch, in den Club zu gehen. Fort von diesen hungrigen Augen, diesem Gefühl, Robbie in einem lebenswichtigen, aber unbegreiflichen Punkt im Stich zu lassen.
    Seltsam. James hatte die Gefangenschaft bei Napoleons Handlangern, Folter und tagtägliche Gefahr ertragen, aber er konnte nicht in diese unnachgiebigen blauen Augen sehen.
    Er nahm das Journal und die Akte, aus der er exzerpiert hatte, als Mr. Walters erschienen war, und griff sich den Gehrock von der Rückenlehne des Sessels. Er streifte ihn über und machte sich auf den Weg zur Eingangshalle, wo auf einem Sideboard sein Hut lag. »Ich muss weg, Junge. Gib Denny Bescheid, dass ich nicht zum Dinner komme, bist du so gut?«
    Robbie folgte ihm langsam. Sein versteinertes kleines Gesicht regte sich nicht. »Nimm mich mit.«
    »Geht nicht, Rob.« James warf ihm ein verzweifeltes Lächeln zu. Robbie schwächte die Intensität seines Blicks kein Jota ab. James sah weg. »Ich habe Geschäfte zu erledigen. Abgesehen davon kommt Phillip bald zurück. Und du wirst ihm doch das Haus zeigen wollen, nicht wahr?«
    Robbie antwortete nicht und rührte sich auch nicht, als James sich zum Gehen wandte. James schaute sich noch einmal um. Der Anblick der kleinen verdreckten Gestalt, die da so allein im Foyer stand, ließ ihn sich wie den schlimmsten Abschaum fühlen.
    Er eilte umso schneller davon.
    Die Farben auf den Straßen von Cheapside wirkten unter dem kalten Nebel blass wie ein ausgewaschener Stoffdruck.
    Die geduckten, huschenden Gestalten erschienen und verschwanden wie Erinnerungen in Phillipas Blickfeld. Die Luft war kalt und feucht, und sie kuschelte
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