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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt
Autoren: Andreas Steiner
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Berthold spürte Dankwarts kräftige Arme, die ihn fest und sicher hielten. Warm war es dort, und heimelig. Wie ein Schutzmantel.
    „Wir können ihn doch hier nicht liegen lassen“, hörte Berthold einen der Soldaten sagen.
    „Wir können doch jetzt nichts mehr für ihn tun“, entgegnete ein anderer.
    „Ja, wir sind auch so schon ziemlich am Ende“, sagte ein anderer.
    „Es interessiert mich einen Dreck, was ihr denkt. Wenn mir keiner hilft, trage ich ihn allein!“ herrschte der Schnurrbärtige die anderen an.
    „Ist ja gut, Hans! Wir tragen ihn alle!“
    Berthold klammerte sich noch immer an Dankwart, obwohl er ihn stark und sicher hielt. Er getraute sich kaum, aufzublicken, aus Angst, sein Urgroßvater könnte verschwinden.
    Dann blickte er Dankwart in die Augen. Liebevolle, ja sogar ein wenig schelmisch blickende, dunkelbraune Augen hatte er. Er sah ihn jetzt so deutlich, wie jeden lebenden Menschen. Er war ihm so vertraut, als habe er ihn schon seit Urzeiten gekannt.
    Beide schauten nun zur Seite. Die Soldaten hatten den Toten vereint hochgehoben und trugen ihn fort, den Hang abwärts. Die Arme des Leichnams hingen schlaff an den Seiten herab und wippten im Rhythmus der Schritte. Der Wind hatte zugenommen, ein richtiger Schneesturm hatte angefangen, und er heulte in hohen, geisterhaften Tönen. Schon bald konnte man die Gruppe geduckter Gestalten nur noch schemenhaft erkennen, und nach einigen Schritten mehr waren sie im eisigen Nebel verschwunden.
    Dankwart sah zu Berthold.
    „Du siehst: Ich bin das, den sie dort tragen“, sagte er, „nicht du.“
    „Es ist furchtbar“, sagte Berthold.
    Dankwart drückte ihn an sich.
    „Das dachte ich auch. Aber jetzt, wo ich es nochmals durchlebt habe, ist es gar nicht mehr schlimm. Ich hatte nur gedacht, da sei etwas so Entsetzliches in meiner Vergangenheit, dass es mich vernichtete, würde ich mich erinnern. Ich hatte nur Angst vor der Angst.“
    Wieder schossen Berthold die Tränen in die Augen.
    „Das ist so schwer zu verstehen. Du bist doch gestorben!“
    „Ja. Aber es ist vorbei. Und ich bin trotzdem nicht fort“, sagte Dankwart. „Ich bin nur woanders. Und trotzdem sind wir uns sehr nahe, wie du siehst.“
    Er strich Berthold über die Wange.
    „Schau, Berthold, durch dich lebe ich. Deine Liebe hat mich zum Leben geführt. Das ist doch wunderbar.“
    „Aber das macht es doch nicht ungeschehen.“
    Berthold dachte noch immer an den leblosen Körper im Schnee.
    „Nein, gewiss nicht. Im Leben passieren nun mal schlimme Dinge. Ja, ich hätte gerne weitergelebt. Aber mein Tod hat schließlich nicht verhindert, dass mein Sohn einen Sohn hat, der dann wieder dein Vater wurde. Das ist das Wichtigste, oder?
    Das, was du jetzt erlebt hast, ist mein Leid, nicht deines.
    Mein Tod. Meine Angst.
    Und gerade die ist vorbei. Es geht mir gut, und ich bin da, wie du siehst. Und der Mensch, der mich einst bedrohte, ist tot. Damit ist das Schlimme vorbei.“
    „Ich wünschte so sehr, du hättest zurückkehren können.“
    „Das geht nun mal nicht. Nicht, was das betrifft, was du gerade gesehen hast. Und es nützt niemandem, wenn du dir das zu Eigen machst. Konzentriere dich lieber auf diese wundervolle Frau, die du gefunden hast. Ich bin geradezu eifersüchtig.“
    Berthold musste jetzt lachen.
    „Dann lebe ich wohl noch ein bisschen“, sagte er.
    „Das würde ich dir wohl raten! Und lass dir Zeit, denn ich habe alle Zeit der Welt. Sei bei deinen Kindern länger, als ich es sein konnte.“
    „Und du wirst mich dabei begleiten?“
    „Wann immer du es wünschst!“
    Berthold fühlte inmitten seiner Traurigkeit eine Gelassenheit, die ihn überraschte. Ja, es war sogar eine friedliche Heiterkeit, die er jetzt fühlte.
    „Wir sollten jetzt nach Hause gehen“, sagte Dankwart.

    „Du hast geweint.“
    Berthold hörte Lenis Stimme wie aus einem entfernten Ende eines Tunnels. Dann schlug er die Augen auf. Er spürte ihre Hand an seiner Wange. Ihr Gesicht war nahe bei ihm.
    Bertholds Gesicht war voller Zufriedenheit. Obwohl er die Nässe auf seinen Wangen spürte, fühlte er sich leicht und glücklich.
    „Du warst mit ihm unterwegs, nicht wahr?“
    „Ja. Und ich bin meine Angst los. Ich weiß es.“
    „Bist du sicher?“
    „Ja“, sagte Berthold und nahm sie in seine Arme, „ich weiß jetzt, wohin sie gehört. Damit ist sie für mich vorbei. Kein Wahnsinn, keine Geisteskrankheit. Eine ganz reale Angst, nur dass sie lange vorbei ist. Und sie gehört mir überhaupt
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