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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt
Autoren: Andreas Steiner
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ihnen, dessen Schnurrbart und Augenbrauen vollkommen eisverkrustet und schneeweiß aussahen.
    Berthold nickte schwach. Ihm war schwindelig und übel. Er würgte plötzlich und übergab sich.
    Sein Auswurf enthielt Blut.
    „Verflucht!“ rief ein anderer Soldat, „Er ist verletzt! Das verdammte Schwein von Heidegger hat ihn verletzt!“
    „Es geht schon“, ächzte Berthold mühsam.
    Er schwankte gefährlich, als er weiterging.
    „Komm her!“ sagte der Schnurrbärtige, legte Bertholds Arm über seine Schultern und umfasste seine Hüfte. Energisch schritt er vorwärts.
    Es ging etwas besser, aber Bertholds Benommenheit nahm zu. Die Schmerzen wurden schier unerträglich. Eine gnadenlose Schwäche begann ihn zu erfüllen. Und eine gnadenlose Angst. Die Angst vor dem nahenden Tod.
    Er begann zu röcheln.
    „Jakob! Hartmut! Kurt! Kommt, wir müssen ihn tragen!“
    Berthold atmete schwer.
    „Ihr ... ihr müsst dort vorne hinunter“, bemühte er sich zu sprechen. „Haltet euch erst am Hang, dann kommt der erste Heuschober. Ab dann müsst ihr immer weiter abwärts. Bis nach Sexten sind es noch etwa drei Stunden.“
    „Verstanden!“ sagte der Schnurrbärtige.
    Berthold fühlte sich jetzt hochgehoben. Er spürte die Griffe der Kameraden kaum noch, er fühlte nur erleichtert, dass seine schweren Beine nun endlich entlastet waren. Das Schaukeln beim schleppenden Gehen ließ aber seine Schmerzen pulsieren.
    „Halt durch, Kamerad!“ sagte einer seiner Träger.
    Berthold brauchte eine Weile, bis er antworten konnte.
    „Wer so süß gewiegt wird, dem kann es nur gut gehen“, scherzte er.
    Plötzlich fühlte er, dass die Schmerzen verschwanden. Sie lösten sich mit einem Mal auf, so als verzöge sich Nebel. Ja, es war ihm jetzt, als risse der undurchdringliche, kalte Dunst auf und warme Sonne schien ihm ins Gesicht. Leicht fühlte er sich jetzt. Bald, bald würde er seinen kleinen Sohn im Arm halten, seine geliebte Leni an sich drücken, und seine wunderbaren Töchter.
    Ein wunderbares Gefühl der Erlösung durchströmte ihn jetzt.
    „Wir sind da, nicht wahr? Wir sind in Sexten!“
    „Gleich, gleich! Wir kommen gut voran!“ sagte eine beruhigende Stimme.
    Berthold lächelte.
    „Jungs, gleich sitzen wir zusammen in einer warmen Stube und trinken ein Bier miteinander, nicht wahr?“
    „Darauf möcht’ i wett'n!“
    Berthold fühlte sich jetzt wohlig warm. Und ganz leicht. Wie in einem warmen, weichen Bett. Er atmete den Duft eines frisch gewaschenen Lakens, ahnte den Geruch eines guten Essens, der aus der Küche zu ihm herüberwehte.
    „Er is’ dod.“
    „Wås red’st du då? Er is’ ohnmächtig!“
    Berthold stand jetzt zwischen den Soldaten und begriff nicht, wovon sie sprachen. Er war jetzt wie aus einem Traum erwacht. Jede Empfindung von Kälte war verschwunden. Er fühlte sich erholt und gestärkt.
    Vier von den Soldaten trugen einen ihrer Kameraden, den sie jetzt vorsichtig niederlegten. Einer der Männer strich dem Leblosen über das Gesicht.
    Berthold trat näher. Jetzt erkannte er ihn.
    „Dankwart!“ rief der Mann. Er schüttelte den Soldaten, der keinerlei Bewegung machte. Der sehr junge Mann, der direkt daneben stand, begann zu schluchzen.
    „Beim allmächtigen Gott, das darf doch nicht sein! Wir sind doch bald da!“ rief ein anderer aus. Fassungslos standen sie um den reglosen Körper herum.
    Berthold sah auf den Toten.
    Ja, es war Dankwart. Dankwart, so wie er ihn kannte. Magerer sah er aus, das Gesicht durch einige Schwellungen entstellt, die Haare nach soldatischer Art kurz geschnitten, Nase und Wangen von der Kälte gerötet, die Lippen rau und aufgesprungen. Und dennoch Dankwart, der ihm inzwischen so vertraut war. Sein Mund war leicht geöffnet, die Augen geschlossen. Er sah fast aus, als lächelte er.
    Wie er in dieses friedliche, vertraute Gesicht sah, kamen ihm die Tränen. Ein tiefer Schmerz kroch aus seinen Eingeweiden hoch und verkrampfte sich in seinem Hals, seinem Mund. Ein lauter, verzweifelter Schrei entrang sich seiner gequälten Kehle.
    Eine warme, liebevolle Hand legte sich ihm auf die Schulter. Durch den Schleier seiner Tränen wusste er zunächst nicht, wer von den Männern es war, der ihn zu trösten versuchte. Doch es war keiner von ihnen.
    „Sei nicht traurig“, sagte Dankwart und drückte ihn fest an sich. Berthold umklammerte ihn fest und innig. Er weinte. Es war ihm, als flösse der ganze Schmerz seines Lebens aus ihm heraus. Dankwart strich über Bertholds Kopf.
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