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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt
Autoren: Tom Becker
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stechenden Schmerz im rechten Arm und fragte sich, ob er gebrochen war. Schließlich schaffte er es, sich aufrecht hinzusetzen. Seine Kleider waren zerrissen und sein Knie blutete. Der Staub in seinen Lungen brachte ihn zum Husten. Als er versuchte, seinen Arm zu bewegen, ließ ihn der heftige Schmerz aufschreien.
    Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er konnte gewisse Formen und Gegenstände um sich herum erkennen. Offensichtlich war die Haltestelle Down-Street seit Jahren nicht mehr in Gebrauch. Staub überzog den Boden und die Holzbänke wie eine graue Schneedecke. Irgendwo tropfte unablässig Wasser in eine Pfütze. In einiger Entfernung liefen Ratten geräuschvoll hin und her, die Könige in diesem kleinen Reich. Obwohl sich Jonathans Nase in Darkside an Gestank gewöhnt hatte, wurde ihm von dem fauligen Geruch der Haltestelle übel.
    Trotzdem war er auf eine seltsame Weise versucht, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, einfach sitzen zu bleiben und sich seiner Müdigkeit hinzugeben. Er wollte den Schmerzen seiner Wunden entfliehen, den grausamen Wermenschen und hungrigen Vampiren entkommen. Das Quieken der Ratten hatte eine einschläfernde Wirkung auf seinen müden Geist. Nur ein paar Minuten ausruhen und dann würde es wieder gehen. Dann wäre alles in Ordnung …
    Das Bild von Alain, der in seinem Krankenbett lag, schoss Jonathan durch den Kopf und rüttelte ihn wach, als hätte man ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gekippt. Wenn er seinen Vater retten wollte, musste er hier raus. Er biss die Zähne zusammen, stützte sich auf seinen gesunden Arm und stemmte sich hoch. Die Bewegung löste eine weitere Schmerzwelle aus, aber diesmal biss er die Zähne zusammen und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Die Ratten quiekten laut durcheinander.
    Er humpelte auf ein Gewirr von Gängen zu, die alle in verschiedene Richtungen verliefen. Es schien schwer vorstellbar, dass hier vor etlichen Jahren Scharen gewöhnlicher Londoner Bürger durch diese Tunnel geströmt und zum Einkaufen gegangen oder nach einem langen Arbeitstag nach Hause gefahren waren. Damals war es hell gewesen, es hatte eine beruhigende Betriebsamkeit geherrscht und die Leute hatten geschwatzt und gelacht. Aber jetzt gab es nur Jonathan und die Ratten. In diesem Moment fühlte er sich hier, etliche Meter unter der Stadt, so einsam wie nie zuvor.
    Ein Gefühl der Verzweiflung überkam ihn, und er fürchtete schon, niemals aus dieser U-Bahn-Station herauszufinden, als er auf den Boden blickte und ein Paar Fußspuren entdeckte, die einen der Gänge entlangführten. Sie sahen frisch aus. Jemand musste kürzlich hier gewesen sein, vielleicht ein Bauarbeiter, der für die U-Bahn arbeitete. Jonathan schüttelte den Kopf. Nein. Er wusste, wer es gewesen war. Außer ihm selbst war noch jemand von der Darkside-Linie abgesprungen. Außer ihm selbst hatte noch jemand sein Leben aufs Spiel gesetzt, um schnellstmöglich von Savage Row aus den Übergang zu durchqueren. Sicherlich war Vendetta verzweifelt auf der Jagd. Ein neuer Energieschub überkam Jonathan und er folgte den Fußspuren. An einer Stelle teilte ein gelbes Schild den Leuten mit, dass der »Durchgang verboten« war. Jonathan lächelte grimmig, als er daran vorbeilief. Das bedeutete, dass er in die richtige Richtung ging. Er stieg eine Treppe hoch und entdeckte einige Lebenszeichen moderner Zivilisation: einen Plastikeimer mit Schmutzwasser, einen verrosteten Schraubenschlüssel und einen Bauhelm.
    Die Treppe endete schließlich in einem leeren Geschäft mit vernagelten Fenstern. Die Tür war offen und von draußen fiel das helle Licht der Straßenlaternen herein. Jonathan hörte das Brummen des Verkehrs auf der Straße, von modernen Autos, keinen Pferdefuhrwerken und Droschken. Er hätte erleichtert sein sollen, aber das war er nicht. Derjenige, von dem die Fußabdrücke stammten, hatte auch diese Türgeöffnet. Es konnte nur eine Kreatur sein und sie hatte einen Vorsprung.

    Das Erste, was ihm auffiel, als er auf die Straße trat, war die Luft. Die dicken Wolken und der Smog, der über Darkside hing, waren verschwunden, und die Luft fühlte sich so frisch und sauber an wie nie zuvor. Die Schornsteine und Fabriken waren Wolkenkratzern und riesigen Leuchtreklametafeln gewichen, deren strahlendes Licht den Nachthimmel erleuchtete. Anstelle klappernder Droschken rollten Heerscharen von Taxis die Straße entlang und brachten Menschen in ihr Zuhause. Wo auch immer Jonathan
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