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Die Schattenhand

Die Schattenhand

Titel: Die Schattenhand
Autoren: Agatha Christie
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ab. Ich weiß nicht, worauf ich wartete oder an was ich dachte…
    Ich lief diesem furchtbaren alten Langweiler Colonel Appleton in die Arme. Er fragte wie üblich nach meiner hübschen Schwester und fuhr dann fort: «Was höre ich da, Griffiths Schwester ist nicht ganz richtig im Oberstübchen? Diese verflixten anonymen Briefe, mit denen sich alle hier herumärgern mussten, kommen von ihr? Konnte es erst gar nicht glauben, aber alle sagen, es stimmt.»
    Es stimme allerdings, sagte ich.
    «Na bitte, letzten Endes ist auf unsere Polizei eben doch Verlass. Geduld und Spucke, sag ich immer, Geduld und Spucke. Komische Geschichte, diese anonymen Briefe. Immer sind es die vertrockneten alten Jungfern – dabei sieht die Griffith doch gar nicht übel aus. Na gut, taufrisch ist sie nicht mehr, aber so richtig stramme Mädels gibt’s hier sowieso nicht. Außer diesem Kindermädchen bei den Symmingtons natürlich. Die macht was her. Nettes Mädel. Dankbar für jede kleine Gefälligkeit. Hab sie neulich getroffen, wie sie mit den Jungen ein Picknick gemacht hat. Die Rabauken tobten im Heidekraut rum, und sie saß da und strickte – war ganz unglücklich, weil ihr die Wolle ausgegangen war. ‹Passen Sie auf›, hab ich gesagt, ‹ich bring Sie nach Lymstock, ich muss eh noch eine Angelrute abholen. Dauert keine zehn Minuten, dann fahr ich Sie wieder zurück.› Sie wusste nicht so recht, ob sie die Racker allein lassen kann: ‹Denen geht’s gut›, hab ich gesagt. ‹Was soll denn schon passieren?› Die Bengels mitnehmen kam für mich natürlich nicht in Frage! Also hab ich sie reingefahren, beim Wollgeschäft abgesetzt und hinterher wieder zurückgebracht, und die Sache war erledigt. Hat sich ganz reizend bei mir bedankt. Wie gütig ich wäre und alles. Nettes Mädel.»
    Irgendwie gelang es mir, ihm zu entfliehen.
    Und dann sah ich Miss Marple zum dritten Mal. Sie kam aus der Polizeiwache.
     
    V
     
    Wo haben unsere Ängste ihren Ursprung? Wo nehmen sie Gestalt an? Wo verstecken sie sich, bevor sie ans Licht kommen?
    Ein kurzer Satz nur. Gehört und registriert und nie ganz abgetan: «Holen Sie mich von hier weg… es ist so grauenhaft, hier zu sitzen… und sich so schlecht vorzukommen…»
    Warum hatte Megan das gesagt? Weswegen musste sie sich schlecht vorkommen?
    Es gab nichts an Mrs Symmingtons Tod, das Megan ein schlechtes Gewissen bereiten konnte.
    Warum war das Kind sich schlecht vorgekommen? Warum?
    Konnte es sein, dass sie sich in irgendeiner Weise verantwortlich fühlte?
    Megan? Unmöglich! Megan konnte nichts mit diesen Briefen zu tun haben – diesen widerlichen, obszönen Briefen.
    Owen Griffith hatte einen Fall in Nordengland miterlebt – ein Schu l mädchen…
    Was hatte Inspector Graves gesagt?
    Ein Mangel an geistiger Reife?
    Unschuldige alte Damen auf Operationstischen, die Worte lallten, deren Bedeutung sie kaum kannten. Kleine Jungen, die mit Kreide Wände beschmierten.
    Nein, nein, nicht Megan.
    Erbanlagen? Etwas, das ihr im Blut lag? Eine genetisch bedingte Anomalie, die ihr selbst nicht bewusst war? Ihr Unglück, nicht ihre Schuld; ein Fluch, mit dem eine frühere Generation sie belegt hatte?
    «Ich bin niemand zum Heiraten. Ich bin im Hassen besser als im Lieben.»
    Ach, meine Megan, mein kleines Mädchen. Nicht das! Alles, nur nicht das. Und diese alte Schachtel ist hinter dir her, sie ahnt etwas. Du hast Mut, sagt sie. Mut wozu?
    Es war nur ein Hirngespinst. Es verflog. Aber ich wollte Megan sehen – ich wollte sie unbedingt sehen.
    Um halb zehn Uhr abends verließ ich das Haus und ging hinunter in die Stadt, zu Symmingtons Haus.
    Und auf dem Weg dorthin kam mir ein völlig neuer Gedanke. Der Gedanke an eine Frau, die niemand auch nur einen Moment lang in Betracht gezogen hatte.
    (Oder hatte Nash sie in Betracht gezogen?)
    Völlig aberwitzig, völlig unwahrscheinlich und, wie ich bis heute gesagt hätte, völlig unmöglich. Aber das war es nicht. Nein, nicht unmöglich.
    Ich beschleunigte mein Tempo. Denn jetzt war es umso dringender, dass ich Megan sah.
    Ich ging durch Symmingtons Gartentor. Die Nacht war dunkel und bewölkt. Es nieselte leicht. Die Sicht war schlecht.
    Ein Lichtstreifen schimmerte in einem der Fenster. Das kleine Teezimmer?
    Ich zögerte einen Moment, bevor ich, statt zur Haustür zu gehen, vom Pfad abbog, sehr leise zu dem Fenster huschte und mich dort neben einem großen Busch niederkauerte. Das Licht fiel durch einen Spalt in den Vorhängen, die nicht ganz zugezogen
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