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Die Schattenhand

Die Schattenhand

Titel: Die Schattenhand
Autoren: Agatha Christie
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zu Joanna, nachdenklich, voll schlechten Gewissens, dass aus mir ein so selbstsüchtiger, ichbezogener Krüppel geworden war: «Du wirst es hier wahrscheinlich grässlich finden. Dir wird London so abgehen.»
    Denn Joanna ist sehr hübsch und sehr lebhaft und geht gern tanzen und mag Cocktails und Flirts und schnelle Autos.
    Joanna lachte und sagte, dass es ihr überhaupt nichts ausmache.
    «Im Gegenteil, ich bin sogar ganz froh, da mal rauszukommen. Die alte Clique ging mir langsam auf die Nerven, und auch wenn ich weiß, dass ich von dir kein Mitgefühl zu erwarten habe – die Sache mit Paul setzt mir wirklich ziemlich zu. Es wird eine Weile dauern, bis ich darüber weg bin.»
    Da hatte ich meine Zweifel. Joannas Liebesgeschichten verlaufen immer nach dem gleichen Muster. Sie verliebt sich bis über beide Ohren in einen rückgratlosen Jüngling, der ein verkanntes Genie ist. Sie lauscht seinem endlosen Gejammer und setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um ihm Anerkennung zu verschaffen. Wenn er sich dann undankbar zeigt, ist sie tief getroffen und behauptet, ihr Herz sei gebrochen – bis der nächste umwölkte Jüngling des Weges kommt, was in der Regel drei Wochen später der Fall ist.
    Also nahm ich Joannas gebrochenes Herz nicht weiter tragisch. Aber mir wurde klar, dass das Landleben meiner attraktiven Schwester als ein neues Spiel erschien.
    «Immerhin», sagte sie, «bin ich schon mal richtig angezogen.»
    Ich musterte sie kritisch und konnte ihre Ansicht nicht teilen.
    Joanna war für le Sport ausstaffiert, und zwar von Mirotin. Das soll heißen, dass ihr Rock nicht nur hauteng war, sondern außerdem ein schockierendes, groteskes Karomuster hatte. Obenherum trug sie ein lächerliches kurzärmliges Tirolerjäckchen und zu all dem durchsichtige Seidenstrümpfe und Golfschuhe, die zwar wunderbar robust waren, aber nagelneu.
    «Nein», sagte ich, «du bist völlig falsch angezogen. Du solltest einen uralten Tweedrock tragen, möglichst in Schlammgrün oder einem verschossenen Braun. Dazu einen schönen warmen Kaschmirpullover in derselben Farbe, vielleicht noch mit einer dicken Jacke darüber, einen Filzhut, grobe Strümpfe und alte Schuhe. Dann, und nur dann, würdest du hier in Lymstock ins Bild passen, statt herauszustechen, wie du es im Moment tust.» Ich fügte hinzu: «Und dein Gesicht passt auch nicht.»
    «Was gibt es an meinem Gesicht auszusetzen? Ich habe extra Landfrische Nummer zwei aufgelegt.»
    «Eben», sagte ich. «Wenn du von hier wärst, würdest du dir nur ein bisschen die Nase pudern, damit sie nicht so glänzt, und vielleicht noch ein klein wenig Lippenstift auftragen – nicht besonders gekonnt –, und unter Garantie hättest du deine ganzen Augenbrauen und nicht nur ein Viertel davon.»
    Joanna prustete; sie schien höchst erheitert.
    «Meinst du, sie werden mich schrecklich finden?», fragte sie.
    «Nein», sagte ich. «Nur sonderbar.»
    Sie wandte sich wieder den Karten zu, die unsere Besucher dagelassen hatten. Einzig die Pfarrersfrau hatte das Glück – oder möglicherweise das Pech – gehabt, Joanna daheim anzutreffen.
    «Fast wie Familienquartett, findest du nicht?», meinte Joanna. «Frau Recht, die Richtersgattin, Fräulein Dosis, die Doktorstochter, und so weiter.» Und ganz erfüllt fuhr sie fort: «Es ist wirklich ein nettes Städtchen, Jerry! So rührend und drollig und altmodisch. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass hier irgendetwas Böses passiert, du?»
    Und obwohl ich wusste, dass es eigentlich Unsinn war, stimmte ich zu. In einem Städtchen wie Lymstock konnte nichts Böses passieren. Seltsam zu denken, dass nur eine Woche später der erste Brief eintraf.
     
    II
     
    Ich merke, dass ich falsch angefangen habe. Ich habe Lymstock selbst nicht beschrieben, und ohne ein Bild von Lymstock ist meine Geschichte nicht zu verstehen.
    Lymstock, das vielleicht als Erstes, war einmal ein Ort von Bedeutung. Seine große Zeit liegt weit zurück, in den Tagen Wilhelms des Eroberers, und sein Glanz war vorwiegend geistlicher Art. Es gab ein Kloster hier, Sitz einer langen Reihe ehrgeiziger und einflussreicher Priore. Die Lords und Barone in der Umgegend suchten sich mit dem Himmel günstig zu stellen, indem sie Teile ihrer Ländereien dem Kloster vermachten. Das Kloster von Lymstock gewann an Reichtum und Geltung, und mehrere Jahrhunderte lang war es mächtig im ganzen Land. Unter Heinrich VIII. jedoch erlitt es das Schicksal aller Klöster, und von da an
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