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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Autoren: Mo Yan
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Zuges sind untrennbar mit dem bedeckten Himmel und der Schwüle, mit meiner von Hunger und Einsamkeit geprägten Kindheit verbunden. Wann immer ich später von diesem unverwechselbaren Ton geweckt wurde, erinnerte ich mich an die vielen Legenden, die mir so viele zahnlose  – und auch nicht-zahnlose  – Münder erzählten. Ich höre zuerst Klänge und Stimmen, und erst danach sehe ich eine Flut von Bildern, die diese Stimmen illustrieren, ergänzen; man könnte auch sagen, von Bildern, die sich aus diesen Klängen entwickeln.
    Zuerst habe ich die Klänge gehört, dann habe ich das Bild vor mir gesehen. Das Bild, wie um das Jahr 1900, zu einer Zeit, als meine Großeltern noch an der Mutterbrust saugten, deutsche Ingenieure, zusammen mit kleinen, zopftragenden Chinesen, die das Schnurbaumholz schleppten, eine Vorrichtung installierten, von der es hieß, daß unzählige kleine Spiegel in sie eingelassen waren; nämlich die Bahnstrecke Jinan  – Jiaozhou. Sie entstand keine zwanzig Kilometer von unserem Dorf entfernt. Und dann sah ich, wie die Deutschen kräftigen jungen Chinesen die Zöpfe abschnitten, um sie unter das Eisenbahnbett zu legen, und wie diese Männer zu kraftlosen Hohlköpfen wurden. Und dann, wie deutsche Soldaten unzählige kleine chinesische Jungen auf Maultiere setzten und an einen geheimen Ort in Qingdao verschleppten, wo sie ihnen die Zunge mit der Schere trimmten, damit sie Deutsch lernten und für die Aufsicht über das Eisenbahnprojekt eingesetzt werden konnten. Natürlich waren das absurde Legenden. Später fragte ich aber doch einmal beim Direktor des Goethe Instituts nach, ob man chinesischen Kindern wirklich die Zunge trimmen müsse, damit sie Deutsch lernten. Der Befragte antwortete zunächst mit gespieltem Ernst: »So ist es«  – und brach dann in ein schallendes Gelächter aus. Damals aber zweifelten wir keinen Moment lang an solchen Legenden, und Leute, die Fremdsprachen sprechen konnten, pflegten wir »die mit der getrimmten Zunge« zu nennen. Lange Zeit spukte in mir das Bild einer endlosen Maultierkarawane herum, die sich am schlammigen Ufer des Jiao entlangbewegt. Jedes Maultier trägt zwei Körbe auf dem Rücken, in denen jeweils ein kleiner chinesischer Junge sitzt. Die Karawane wird von deutschen Soldaten eskortiert, und hinter ihr her gehen Mütter mit verweinten Gesichtern, und alles hallt von ihren Wehklagen wider. Es heißt, daß ein entfernter Verwandter unserer Familie zu diesen nach Qingdao verschleppten Kindern gehörte und später zum Chefbuchhalter der Eisenbahn wurde. Er habe ein jährliches Gehalt von dreißigtausend Silberdollar bezogen, und der Sechste Kleine Liu, der in seinem Haus als Diener arbeitete, erzählte, er habe sich nach seiner Rückkehr nach Hause ein aus drei Gebäuden bestehendes, großzügiges Anwesen mit Garten errichten lassen. Aber es gab in meinem Kopf noch andere Geräusche und Bilder: Das eines riesenhaften Drachens, der unter der Erde verborgen ist und vor Schmerz stöhnt, weil die Eisenbahnschienen ihm auf den Rücken drücken. Er versucht sich aufzubäumen, und mit ihm bäumen sich die Eisenbahnschienen auf, und so entgleisen die Züge. Hätten die Deutschen die Eisenbahn nicht gebaut, wäre Dongbei im Landkreis Gaomi die Hauptstadt des Reiches geworden, davon waren wir überzeugt. Aber der Drache mußte sich drehen und brach sich die Hüfte bei dem Versuch, den Zug abzuwerfen, und so war die Geomantik der Region unwiederbringlich zerstört. Eine weitere Legende, die mir zu Ohren gekommen ist: Kurz nachdem die Eisenbahn ihren Betrieb aufgenommen hatte, gelangten einige brave Burschen aus Gaomi zu der Auffassung, daß es sich bei den Zügen um riesige Tiere handelte, die sich wie Pferde von Heu und Stroh ernährten. Sie bauten sogar eine Abzweigung aus Stroh und schwarzen Bohnen; damit wollten sie den Zug zu einem Teich leiten und ertrinken lassen  – doch leider ignorierte der Zug den Köder und blieb auf seinen Gleisen. Als sie später von den Kollaborateuren, die an den Bahnstationen arbeiteten, erfuhren, wie die Eisenbahnen wirklich funktionierten, begriffen sie, daß sie das gute Stroh und die schwarzen Bohnen für nichts und wieder nichts verschwendet hatten. Aber kaum war eine abenteuerliche Geschichte aus der Welt, wurde schon der nächste Mythos kreiert. Die Kollaborateure erzählten den Leuten nämlich, daß die Heizkessel der Eisenbahnen aus purem Gold bestünden, denn wie sonst könnten sie jahrein, jahraus dem
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