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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Autoren: Mo Yan
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großem Maße behilflich. So kam es übrigens auch, daß ich zum ersten Mal mit meinen Freunden die Eisenbahnstrecke in Augenschein nahm. »Lernen durch Anschauung« war das Motto. Die in diesem Roman erscheinenden Textpassagen der Oper »Die Sandelholzstrafe« sind von renommierten Dramatikern der Region immer wieder verwendet und überarbeitet worden.
    Später verließ ich meine Heimat, um mir in anderen Gefilden meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mein Engagement für die Katzenoper kam aufgrund von zuviel Arbeit und Existenzsorgen fast gänzlich zum Erliegen  – gerade so wie diese besondere Opernform, die einst der geistigen Erziehung der Bevölkerung von Gaomi diente, immer mehr in Vergessenheit geriet. Es gab zwar noch eine professionelle Gruppe von Schauspielern, die sich dieser Tradition widmete, aber sie trat nicht besonders oft auf, denn die jüngere Generation zeigte wenig Interesse. Als ich zum Frühlingsfest 1986 zum Familienbesuch in meine Heimat zurückkehrte, hörte ich, als ich gerade die Absperrung passiert hatte, aus einem kleinen Teehaus am Rande des Bahnhofsvorplatzes den traurigen und anrührenden Gesang der Katzenoper. Die Sonne war gerade aufgegangen, und der Bahnhofsvorplatz war menschenleer. Als ich die traurige Melodie in Verbindung mit dem schrillen Pfeifen des abfahrenden Zuges hörte, wallten die unterschiedlichsten Gefühle in mir auf. Auf unbestimmte Weise wußte ich, daß diese beiden Stimmen, die der Oper und die der Eisenbahn, die so eng mit meiner Kindheit und Jugend verknüpft waren, wie Samen in mir keimten, um eines Tages ein großer Baum zu werden, ein wichtiges Werk.
    Im Herbst 1996 begann ich mit der Arbeit an der »Sandelholzstrafe«. Durch die Verarbeitung der zahlreichen Wundergeschichten über die Züge und die Eisenbahnstrecke kam ich schnell auf einen Text von etwa fünfzigtausend Schriftzeichen, den ich erst einmal zur Seite legte. Als ich ihn wieder zur Hand nahm, mußte ich mir eingestehen, daß er voll von einem magischen Realismus war  – was zwar beabsichtigt war, mich aber doch dazu brachte, den Text noch einmal vollständig umzuarbeiten und auf viele legendenhafte Einzelheiten zu verzichten, weil sie mir überflüssig erschienen. Letzten Endes entschloß ich mich, die Stimme der Eisenbahn zu reduzieren, um die Stimme der Oper stärker zu betonen. Sicher hat diese Vorgehensweise den sprachlichen Reichtum des Textes abgeschwächt, aber diesen habe ich gern zugunsten einer stärkeren Betonung der Volkstümlichkeit und eines unverfälschten chinesischen Stils geopfert.
    Sowenig wie die Katzenoper sich für die Aufführung in großen, eleganten Theatern eignet, wie die italienische Oper oder das russische Ballett, sowenig ist zu erwarten, daß mein Roman den Gefallen von Liebhabern westlicher Literatur, insbesondere solchen mit hochintellektuellem Anspruch, findet. Um so besser wird er bei jenen Lesern Anklang finden, die volkstümliche Literatur zu schätzen wissen. Schließlich ist die Katzenoper ein Spektakel, das man auf öffentlichen Plätzen vor großem Publikum aufführt. Vielleicht sollte daher auch dieser Roman vor vielen Menschen auf öffentlichen Plätzen vorgelesen werden, von einem Sprecher mit rauher Stimme, als geistiges und sinnliches Lesevergnügen. Mit dieser Idee der öffentlichen Lesung im Hinterkopf habe ich eigens eine große Anzahl gereimter Passagen in den Text eingebaut und mich dem Erzählstil des Theaters bedient, um auf diese Weise einen natürlichen, verständlichen, hyperbolischen und pompösen Effekt zu erzielen. Die volkstümliche Rezitier- und Gesangskunst bildete einst die Grundlage für den Roman. Heute ist der Roman keine populäre Kunstform mehr, sondern die Domäne einer verfeinerten Hofschriftstellerei mit Anleihen bei der westlichen Literatur, die das Erbe der volkstümlichen Literatur unterdrückt. »Die Sandelholzstrafe« ist ein Roman, der diesen Trend nicht mitmacht und der Mode entspricht; er verdankt sich dem bewußten Rückgriff auf vormoderne Erzählformen und nimmt in meinem gesamten literarischen Schaffen insofern eine Sonderstellung ein. Ich hätte mir gewünscht, daß dieser Rückschritt ins Volkstümliche noch stärker ausgefallen wäre, als er es letztendlich ist.
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