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Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter

Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter

Titel: Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
Autoren: Margit Sandemo
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drüben am Waldrand oberhalb von Lindenallee etwas vorgefallen. So viele Leute waren angelaufen gekommen! Wie es aussah, hatten sie etwas gefunden. Und die ganze Nacht hindurch hatten Feuer gebrannt.
    Aber es zog sie nicht dort hin. Das ging sie nichts an. Sie war ausgeschlossen.
    Früher einmal - als Mutter noch lebte - hatte sie unter Menschen gehen können. Hatte sogar mit ihnen sprechen können.
    Das konnte sie nun nicht mehr. Es war, als hätte sie den Gebrauch der Worte verlernt.
    Nicht einmal mit dem Vater sprach sie noch. Sie zweifelte niemals an ihrer Pflicht, sich um ihn zu kümmern. Aber sie unterhielt sich nicht mit ihm. War er zornig oder beleidigt - und eins von beidem war er meist, schwieg sie nur.
    Sie wußte selbst, daß sie als Mensch abstumpfte, daß sie auf diese Weise ihre Persönlichkeit zerstörte, aber was konnte sie tun, um das zu verhindern? Nur die Katze und die anderen Tiere bekamen ihre Stimme noch zu hören. Sie hörten, wieviel Liebe in ihrer Stimme lag, trotz der mitschwingenden Verdrießlichkeit, die auf mangelnde Übung zurückzuführen war und auf einen Widerwillen, sich an jemanden zu binden.
    Andreas wußte nicht, welches Ausmaß an Verletzungen der Henkersknecht davongetragen hatte, aber es steckte noch Leben in ihm. Hin und wieder kam ein jämmerliches Stöhnen vom Wagen.
    Als Andreas auf den kleinen Hofplatz der Waldkate fuhr, war er überrascht, wie sauber und ordentlich alles aussah. Armselig, das schon, aber alles war in einem gepflegten Zustand. Kein zerbrochener Zaunpfahl, kein herabgefallenes Brett zu sehen, Blumen waren in einem beinahe rührend kleinen eingezäunten Gartenstück gepflanzt, und eine Katze lag auf der Türschwelle und sah aus, als ginge es ihr richtig gut in diesem Haus. Er klopfte an die Tür.
    Niemand antwortete. Drinnen blieb es totenstill. Andreas wartete eine Weile, dann rief er:
    »Ich bin Andreas Lind vom Eisvolk. Von Lindenallee. Ich bringe Joel Nachtmann heim. Er ist böse verletzt.« Nach einer kleinen Weile waren leichte, geschwinde Schritte zu hören, und mit einem Ruck wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Dann entfernten sich die leichten Schritte wieder.
    Andreas hob den Verletzten vorsichtig an, der sofort zu stöhnen begann, und hievte ihn vom Wagen. Er trug ihn in die dunkle kleine Stube und legte ihn aufs Bett. Er konnte hören, wie jemand drinnen in der Kammer ängstlich atmete.
    Andreas sah sich in dem Raum um. Alles war blitzsauber und blankgescheuert. An einem Haken hingen Frauenkleider, und er begriff, daß dies eigentlich das Bett einer Frau war.
    »Hilde Joelstochter«, sagte er. »Möchtet Ihr, daß ich Euren Vater in die Kammer bringe?« Langsam ging die Tür auf.
    Er hatte die Tochter des Henkersknechts nie zuvor gesehen. Und er war verblüfft über den Anblick, der sich ihm nun bot.
    Sie war größer, als er erwartet hatte - sie mußte wohl ungefähr so groß sein wie Mattias, dachte er. Das Gesicht - oder das, was er davon sehen konnte - und die Kleider waren sehr gepflegt. Sie roch angenehm und sauber. Und was für Haar sie hatte! Es kräuselte sich zierlich um ihr Gesicht und hing in einem dicken Zopf den ganzen Rücken hinunter. So langes und prächtiges Haar hatte er noch nie gesehen.
    Seine Verwunderung nahm immer mehr zu. Hier arbeitete sie tagaus, tagein und sorgte für ein schönes Heim - und niemand kam und bemerkte es. Seit vielleicht fünfzehn Jahren war keiner mehr hier gewesen. Bis auf den gestrengen Vater, der gewiß keine angenehme Gesellschaft war.
    Trotz ihrer Schüchternheit muß diese Frau eine erstaunliche Kraft besitzen, dachte er.
    »Helft mir, ihn hineinzutragen«, sagte er so freundlich, wie er konnte, denn er begriff, daß sie unglaublich menschenscheu war.
    Wortlos packte sie die Beine des Vaters, und gemeinsam trugen sie ihn in die kleine Kammer, in der kaum Platz genug für sie alle war.
    Hilde betrachtete Andreas insgeheim. Einmal war sie die Bergwiese hinaufgeklettert, es war jetzt schon lange her. Oben hatte sie gestanden und über das Land geblickt, bis ganz zum Fjord hatte sie geschaut und landeinwärts hinüber zu den Bergen, deren Blau immer mehr im Dunst verschwand, je weiter entfernt sie waren. Und sie hatte innerlich ein schmerzliches Ziehen verspürt, eine Sehnsucht nach etwas, das sie nie erreichen würde. Jetzt spürte sie dasselbe Gefühl.
    Helft mir, ihn hineinzutragen, hatte er gesagt. Zu ihr. Und es lag nichts Gehässiges oder Verächtliches in den Worten. Helft mir, ihn
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