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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin
Autoren: Petra Durst-Benning
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Maß, da wir selbst höher steigen. So möchte ich mich mit allen, die um mich sind, zu einem Punkt erheben, der weit über allem Ehrgeiz und Streben nach irdischen Dingen liegt.
    Die Niederschrift dieser Erinnerungen an meine Jugendzeit war eine wohltuende Zerstreuung für mich; sie half mir zwei Jahre zu durchleben, die die schmerzlichsten meines Lebens waren, erfüllt von Leid der Seele wie des Körpers, da mich Schlag auf Schlag getroffen hat. So viele Seiten ich schrieb, so viel schmerzfreie Stunden ich empfing. Ich durchlebte von neuem die Jahre meiner Jugend, wo ich in der Fülle des Seins stand, wo alles mir gut schien und wie durchleuchtet von den Farben des Himmels. Ich wünsche, dass meine kleinen Herzensnichten Olga und Elsa nicht weniger Glück in ihrer Kindheit und Jugend erfahren möchten, wie es mir geschenkt war, damit sie wie ich einst aus solchem Erinnerungsschatz Trost und Freude für ihr späteres Leben gewinnen möchten.
    Königin Olga von Württemberg, Großfürstin von Russland
    Zögerlich legte Olly ihre Schreibfeder weg. Sie hatte den Tag, an dem sie diese letzten Zeilen schrieb, herbeigesehnt. Gleichzeitig hatte sie Angst davor gehabt. Ohne ihre süßen Erinnerungen würde sich das alte schwarze Loch auftun und sie erneut verschlucken. Das Leben hatte sie wieder.
    Eigentlich hatte sie nie Memoiren schreiben wollen und auch heute noch zierte sie sich, ihre Aufzeichnungen so zu nennen. Es waren ihre »Jugenderinnerungen«, denen sie sich gewidmet hatte. Die Jahre vom Tag ihrer Geburt an bis zu dem Tag, an dem sie als junge Braut Russland verlassen hatte. Ihre besten Jahre.
    Olly strich liebevoll über den dicken Stapel loser Blätter, dann holte sie ein seidenes Bändchen aus der Schublade. Nachdem sie die Blätter verschnürt hatte, legte sie alles in den Schrank. Sie würde es binden lassen zu einem Buch für Olga und Elsa. Irgendwann. Oder auch nicht.
    Sie war so müde.
    Eine Hand in den schmerzenden Rücken gestemmt, trat Olly ans Fenster.
    Es war kein schlechtes Leben gewesen. Alles in allem hatte der liebe Gott ihr viele schöne Momente geschenkt. Und die Kraft, die weniger schönen hinzunehmen.
    Abernun war sie alt, ihre Kraft war verbraucht.
    Von der Straße her ertönten fröhliche Rufe, Gelächter, das Schnarren von hölzernen Rätschen, wie man sie bei volkstümlichen Umzügen oder Tanzeinlagen hörte. In der letzten Nacht des Jahres setzten sich die Stuttgarter über die Sperrstunde hinweg, und die Polizei drückte ein Auge zu, solange sich alle zu benehmen wussten.
    Olly schob die Spitzengardine zur Seite.
    Wo Karl wohl die Nacht verbrachte? Und mit wem? Nur mit James oder waren noch weitere »Freunde« mit von der Partie?
    Sie wollte es in Wahrheit gar nicht wissen.
    Olly wandte ihren Blick vom fröhlichen Treiben auf den Straßen ab und schaute sehnsüchtig in den Himmel. So viele Sterne am schwarzen Firmament. Und so viele Engel, die auf sie herabschauten …
    Ihre lieben Schwestern Adini und Mary.
    Ihr geliebter Vater, Zar Nikolaus, der im März 1855 hatte gehen müssen.
    Ihre Mutter, die ihm nur wenige Jahre später gefolgt war.
    Sascha, der ihr von allen Brüdern der liebste war.
    Sein Tod war wie ein Dolchstoß für sie gewesen. Seitdem verstand sie die Welt nicht mehr. Wie konnte so etwas geschehen? Sascha war der beste Zar gewesen, den Russland je erlebt hatte. Im Gegensatz zu seinem Sohn Alexander, der ganz andere Töne anschlug: Kaum war er zum Zar erhoben gewesen, begann er die Reformen seines Vaters in Frage zu stellen. Wahrscheinlich hätte er am liebsten sogar die Leibeigenschaft wieder eingeführt! Olly hatte an einen bösen Scherz geglaubt, als sie die Nachricht aus St. Petersburg bekam, dass der junge Alexander Kosty aus all seinen Ämtern geworfen hatte, weil der ihm zu liberal war. Sofort hatte sie ihrem Neffen einen Brief geschrieben und ihm die Meinung gesagt. Dass er ihr nicht geantwortet hatte, war für Olly Antwort genug. Sie gehörte zum alten Eisen. Ihre Zeit war abgelaufen. Niemand interessierte sich mehr für ihre Ansichten. Sie war die alte Tante aus dem kleinen Land Württemberg, deren Ehemann sich liebermit Männern vergnügte, statt sich ein paar hübsche Geliebte zu halten, wie es sich gehörte.
    Olly lachte bitter. Zum Teufel mit dir, Alexander III.!
    Warum war die letzte Nacht im Jahr eigentlich immer entweder sternenklar oder nebelverhangen? Sie konnte sich kaum an eine trübe oder regnerische Silvesternacht erinnern. Was wollte der liebe
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