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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin
Autoren: Petra Durst-Benning
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bricht heran ein neues junges Jahr.
    Wie Morgenroth am fernen Horizonte
    Steigt es empor, so zaub’risch wunderbar!
    Wera lächelte.

Epilog
    Remshalden bei Stuttgart,
    1 . Oktober 1909
    »Liebe Gäste, willkommen im Weraheim! Ich freue mich, heute mit Ihnen die Eröffnung dieser wunderbaren Zufluchtsstätte feiern zu dürfen.« Herzogin Wera von Württemberg machte eine weit ausholende Handbewegung, mit der sie die großzügigen, renovierten Räumlichkeiten einschloss.
    Den Geruch von frischer Farbe und Seifenlauge in der Nase, lächelte sie in die Runde, die sich auf ihre Einladung hin in dem jahrhundertealten Fachwerkhaus eingefunden hatte: der Bürgermeister samt Frau, der Leiter der Lateinschule und weitere Honoratioren des kleinen Ortes.
    Es waren allerdings nicht nur freundliche Gesichter, die ihr entgegenstarrten. Die aus Stuttgart angereisten Damen des Adels wirkten ein wenig irritiert. Wo sind wir hier gelandet?, schienen ihre Mienen auszudrücken. Die Diakonissinnen, denen die Leitung des Hauses übertragen war, standen ganz hinten, Wera sah gerade noch ihre weiß gefältelten Hauben. Sie würden sich von den Blicken bestimmt nicht einschüchtern lassen.
    »Bevor ich heute hierherkam, war ich an einem anderen Ort. Einem sehr unfreundlichen und kalten Ort. Ich habe eine Kindsmörderin besucht. Sie hat ihren Säugling in der Toilette des StuttgarterBahnhofes getötet. Nun verbüßt sie ihre Strafe im Frauengefängnis in Bad Cannstatt.«
    Ein entsetztes Raunen ging durch den Raum. Elsa und Olga, die neben Wera standen, seufzten gleichzeitig leise auf.
    »Ach Mutter, muss das sein?«, hörte Wera im Geist ihre Töchter enerviert fragen. »Hättest du nicht einfach von Mildtätigkeit und Nächstenliebe sprechen können?«
    Wera schnaubte. Sie hatte ihre Eröffnungsrede mit Bedacht gewählt. Schöne Worte säuseln? Nach allem, was geschehen war?
    Nach der Lektüre des Zeitungsberichts, der sensationsheischend von dem Drama berichtete, hatte Wera die ganze Nacht nicht schlafen können. Wie verzweifelt musste ein Mensch sein, um solch eine Tat zu begehen? Und wenn es nötig war, Haus und Hof zu verkaufen – es musste ihr gelingen, eine Zufluchtsstätte für solch verzweifelte Frauen zu schaffen! Damit so etwas niemals wieder geschah.
    Mit rotgeränderten Augen hatte sich Wera am nächsten Morgen aufgemacht, um mehr über die Hintergründe des Unglücks herauszufinden. Was sie erfuhr, war schlimmer, als sie es sich hätte vorstellen können: Die Frau, die ihr Kind getötet hatte, war Margittas Enkelin Ruth.
    Wie viel Elend sollte den tapferen Frauen dieser Familie eigentlich noch zustoßen?, hatte Wera sich weinend gefragt.
    Zuerst war da Margittas Mutter, die Wäscherin, gewesen. Dann Margitta selbst. Wera hatte ihre geliebte Freundin vor sieben Jahren zu Grabe tragen müssen. Keuchhusten und Unterernährung, hatte der Arzt nüchtern konstatiert. Mit leerem Blick standen Margittas Kinder am Grab, auch Marianne, die selbst schon dreifache Mutter war. Ihre Älteste war die sechzehnjährige Ruth, die Kindsmörderin. Das Elend pflanzte sich von Generation zu Generation fort – die Frauen waren und blieben Opfer von Männern, die sich nicht kümmerten. Und von einer Gesellschaft, die wegschaute: Niemand hatte Ruth eine Chance gegeben, stattdessen –
    »Mutter«, raunte die dreiunddreißigjährige Elsa mahnend. »Die Leute werden unruhig, sprich zu ihnen!«
    Werafunkelte erst ihre Tochter, dann die versammelten Gäste an. Mit fester Stimme fuhr sie fort:
    »Die junge Frau hat ihr Kind nicht aus Bosheit getötet. Oder weil es ihr lästig war, ganz im Gegenteil. Ruth – so hieß die junge Mutter – hat ihren Buben innig geliebt. Sie war Magd im Haus eines hochgestellten Herrn, dessen Namen ich Ihnen zu gern verraten würde. Ob sie das Kind von ihm empfing? Wir wissen es nicht. Sie wäre jedenfalls nicht die erste junge Hausangestellte, die von ihrem Arbeitgeber geschwängert wurde.« Wera ignorierte die aufgeregten Zischlaute, die ihr aus den ersten Reihen entgegentönten, und sprach hastig weiter:
    »Als Ruths Bauch dicker wurde, warf ihr Arbeitgeber sie hinaus. Wohin sie danach auch ging, an welcher Tür sie auch klopfte – immer trug sie den Säugling in einem zerschlissenen Tuch nahe an ihrem Herzen.« Eindringlich wanderte Weras Blick von Frau zu Frau, von Mann zu Mann. Hatte sie die Herzen der Menschen erreicht?
    »Sie hatte den Säugling dabei, als sie ihren ehemaligen Arbeitgeber anflehte, wieder als
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