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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin
Autoren: Petra Durst-Benning
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nicht böse, aber ich möchte mich gern zurückziehen.«
    »Aber … Es ist nur noch eine halbe Stunde bis zum Jahreswechsel!«, rief Wera. »Willst du nicht noch so lange aushalten und mit uns aufs neue Jahr anstoßen?«
    »Das holen wir nach, morgen«, sagte Olly.
    »Ist es eine gute Idee, diese letzten Minuten im Jahr allein zu verbringen?«, fragte Evelyn und legte ihre Hand auf Ollys Arm.
    Die Königin tätschelte sie lächelnd. »Ich werde nicht allein sein, ich habe doch meine Erinnerungen.«
    Im Hinausgehen wandte sich Olly noch einmal um. Die Kristallsteine auf ihrer Robe funkelten, doch ihre Augen waren glanzlos und müde, als sie zu Wilhelm von Spitzemberg sagte: »Jetzt wissen Sie, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden.«
    *
    Karlhatte genau ein Dutzend Gäste geladen, um mit ihnen im königlichen Jagdschlösschen Favorite in Ludwigsburg den Jahreswechsel zu feiern. Ein Dutzend, zwölf – die überirdische Zahl. Seine Freunde. Außergewöhnliche Menschen, allesamt! Und einer davon noch außergewöhnlicher als alle anderen … In stummer Freude drückte Karl Charles Woodcocks Hand.
    Dann ließ er seinen Blick über die Tafel wandern. Ein Maler des Barocks hätte seine helle Freude an diesem Stillleben gehabt: Eine riesige Terrine mit Schildkrötensuppe stand neben der Fleischplatte und den Schüsseln mit Gemüse, Fischragout und Kartoffeln. Karl hatte außerdem einen ganzen Schinken auftragen lassen, von dem sich jeder nach Belieben eine Scheibe Fleisch absäbeln konnte. Die Damen zierten sich ein wenig, vor allem Madame Honault, die Wahrsagerin, aber was machte es schon? Sollte sie eben Kuchen essen! Oder Pasteten. Oder etwas von den unzähligen anderen Speisen, unter deren Last der Tisch fast zusammenzubrechen drohte. Wein, Kaffee, Cognac, Champagner und sogar ein paar Krüge Bier standen ebenfalls parat. Warum alles nacheinander auftragen, wenn man sämtliche Genüsse auf einmal haben konnte?
    Ein zehngängiges Menü? Schrecklich altmodisch! So etwas mochte zu Zeiten seines Vaters en mode gewesen sein, aber jetzt galt es, offen zu sein für neue Ideen. James hatte so recht, genau das immer wieder zu betonen.
    Sein James … Der beste Freund, den er jemals hatte.
    Karls Gesicht strahlte, als er mit hochroten Wangen sein Glas zu einem weiteren Salut erhob.
    »Auf uns, mein lieber James!«, sagte er zu seinem Vorleser. Mit dem rechten Zeigefinger winkte er ihn näher zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Deine homöopathischen Pülverchen wirken ganz ausgezeichnet, ich könnte die Welt aus den Angeln heben!« Um seine Aussage zu unterstreichen, riss er die Augen weit auf und gab ein wildes Knurren von sich.
    Die Tischrunde brach in heiteres Gelächter aus, der Amerikaner Charles Woodcock lachte am lautesten.
    »Kenntdie Homöopathie auch ein Mittel, um vorauszusagen, was das neue Jahr für uns bereithält?«, fragte eine stark geschminkte und gänzlich in Schwarz gekleidete Dame. Fächerartig hielt sie sich dabei ein Blatt Karten vors Gesicht. »Oder wollen wir doch lieber das Orakel befragen?« Sie ließ die Karten auf den Tisch rieseln. Eine davon landete in James’ Weinglas, eine andere auf der Porzellanplatte, auf der außer gebratenen Hühnerschenkeln auch kleine Fleischklöße lagen.
    Karl, der gerade von einem Hühnerschenkel abbiss, zeigte mit demselben auf die Platte.
    »Wie es aussieht, prophezeien uns deine Karten ein Jahr der fleischlichen Genüsse«, sagte er mit vollem Mund, was die Tischrunde in erneutes Gelächter ausbrechen ließ.
    *
    Hier enden meine Jugenderinnerungen. Nach der Heirat beginnt ein so andersartiges Leben, ein Leben, dem viele bittere Erinnerungen beigemengt sind, trotz vielen häuslichen Glückes, so dass es mir besser erscheint, es nicht wieder heraufzubeschwören! Die guten wie die schlechten Tage tragen zur Entwicklung unseres Wesens bei. Nicht sich verbittern lassen, jene ehren, die wir nicht lieben können, Böses mit Gutem erwidern, vermeiden, sich auf sich selbst zurückzuziehen, und doch einen unantastbaren Grund der Unabhängigkeit, der Ruhe und des Wohlwollens in sich bewahren – das war es, was ich stets zu verwirklichen trachtete. Man ist  im Unrecht in dem Augenblick, da man glaubt, geistreicher oder edelmütiger zu sein als die, in deren Kreis man zu leben berufen ist.
    Von einem gewissen Alter ab ist es notwendig, sich mit Dingen zu beschäftigen, denen wir uns mit Geist und Herz hingeben können. Der Meereshorizont hebt sich in dem
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