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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin
Autoren: Petra Durst-Benning
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aufgebrochen, um dort den Winter zu verbringen. Nur der Tross rund um Olly und Wera verweilte noch im Palast. Die Gespräche innerhalb der Familie kreisten oftmals um dieselben Themen wie ein paar Wochen zuvor. Immer öfter kam es zu kleinen Auseinandersetzungen. Je besser man sich kennenlernte, desto klarer traten die unterschiedlichen Auffassungen von vielen Dingen an den Tag.
    Wera wurde unruhig. Das ewige Parlieren und Nichtstun, die gekünstelt wirkende Sorglosigkeit, die ihre Familie dabei an den Tag legte, während sie in Wahrheit wie gelähmt vor Angst war – Angst vor dem eigenen Volk! –, mit alldem konnte sie nicht umgehen. Es entsprach ihr einfach nicht.
    Sievermisste zudem ihre Kinder. Sie vermisste die Besuche an Eugens und Klein-Egis Grab. Sie vermisste ihre Arbeit des Spendensammelns. Ja, sie vermisste sogar die rotwangige Milchfrau, mit der sie allmorgendlich ein paar Worte wechselte. Und das, ohne Angst davor haben zu müssen, dass in der Milchkanne eine Bombe versteckt war! Sie vermisste Stuttgart. Die Stadt, in der sie sich frei bewegen konnte, wie ein ganz normaler Mensch. Wo sie sich in ein Café setzen konnte, ein Stück Torte essen und Bekannten, die vor dem Fenster vorbeiliefen, zuwinken konnte. Ohne Angst haben zu müssen, dass einer von ihnen die Absicht hatte, ihr bei nächster Gelegenheit einen Dolch zwischen die Rippen zu jagen. Wie ihre Mutter und Tante mit dieser Bedrohung ruhig leben konnten, war Wera schleierhaft. Nur eingesperrt zu sein in den eigenen vier Wänden, während sich die Bösewichte frei in der Stadt bewegten?
    Dass die Zarenfamilie so wenig – um nicht zu sagen: gar keinen – Kontakt zum Volk hatte, entsetzte Wera zusätzlich. Vielleicht war nicht jeder Monarch so volksnah wie Karl, der mit seinem Adjutanten auch gern einmal einen Krug Bier in einer Stuttgarter Gaststätte trank und Beifall klatschte, wenn die anderen Gäste ihm ein Trinklied vorsangen. Und ganz bestimmt war nicht jede Monarchin so wohltätig wie Olga. Aber hier und da einmal ein paar Worte mit dem einfachen Volk zu wechseln war von einem Regenten doch nicht zu viel verlangt, oder? Schließlich drehte sich alles ums Wohl der Menschen, und dieses konnte man nur erzielen, wenn man deren Bedürfnisse kannte. »Man muss mit den Leuten schwätzen«, betonte Karl immer wieder. Wera bezweifelte, dass diese Einstellung auch in Russland galt.
    Als am zwanzigsten Dezember ein Telegramm aus Stuttgart eintraf, in dem Karl ihnen vorwurfsvoll mitteilte, dass er sich angesichts ihres sich hinziehenden Aufenthalts entschlossen habe, die Durchführung der Armenweihnacht zu übernehmen, damit die Kinder nicht auf ihre Geschenke verzichten mussten, glitzerten sowohl in Ollys als auch in Weras Augen Tränen.
    »Es ist Zeit heimzukehren, findest du nicht?«, sagte Olly und legte einen Arm um Weras Schulter.

35. KAPITEL
    Stuttgart, 31 . Dezember 1883
    W arum wurde sie an Silvester eigentlich immer ein wenig melancholisch? War der letzte Tag im Jahr nicht viel eher ein Anlass für ausgelassene Feiern?, fragte sich Evelyn, während sie mit einem wehmütigen Lächeln ihren Blick über die üppig gedeckte Festtafel gleiten ließ. Alles war wunderschön wie immer: Eine bodenlange weiße Damasttischdecke lag über dem Tisch, rote Damastservietten prangten neben jedem Teller, silberne Kerzenleuchter, in denen elegante schneeweiße Kerzen steckten, tauchten alles in ein warmes Licht. Der ausladende Tischaufsatz stammte aus der Königlichen Ludwigsburger Porzellanmanufaktur: ein verzweigter, reich belaubter Ast, auf dem drei Papageien saßen. Ein Kakadu, ein grüner Ara, ein Graupapagei. Bei allen Vögeln war das Gefieder so detailgetreu, die Augen so lebensecht, die Körperhaltung so naturgetreu, dass sich Evelyn nicht gewundert hätte, ein Kreischen zu vernehmen. Papageien seien ein Symbol für Glück, erklärte Olly jedes Jahr, wenn sie für diese Nacht den Tisch decken ließ. Von diesem speziellen Glückssymbol hatte Eve noch nie etwas gehört, sie war aber gern bereit, daran zu glauben.
    Glück … Niemand konnte behaupten, dass das vergangene Jahr für sie alle ein besonders glückliches gewesen war, genau wie die letzten drei Jahre zuvor. Manchmal kam es Evelyn vor, als läge eine Art Fluch über den Romanows und dem württembergischen Königshaus. Ob 1884 mehr Fortune bereithielt?
    IhrBlick wanderte hinüber zu Olly, die damit beschäftigt war, Elsa und Olga zu erklären, dass es sich nicht schickte, sich einfach
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