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Die Rueckkehr des Henry Smart

Die Rueckkehr des Henry Smart

Titel: Die Rueckkehr des Henry Smart
Autoren: Roddy Doyle
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verbraucht. Aber immer noch blau. Immer noch eine Wucht.
    – Hast du die Geschichte schon gelesen?
    – Nein.
    – Du kannst lesen.
    – Sicher kann ich lesen.
    Ein Zimmer mit einem großen Schreibtisch und drei Stühlen. Zigarrenrauch, der seit Jahren in Schichten unter der Decke hing. Und Bilder, große Fotos aus Filmen – Pferde und Hüte. Henry Fonda und andere, die ich nicht kannte.
    Es war der 27. November.
    Ford saß hinter dem Schreibtisch. Kein Zweifel, das war er. Meine Seite sah genau aus wie seine, aber er war der Mann dahinter, mit Blick zur Tür. Es gab noch einen dritten Stuhl, auf dem saß ein Mann, der Papiere in der Hand hatte und einen Stift, der zu groß für seine Hand war. Ford machte uns nicht miteinander bekannt, und ich stellte mich nicht vor.
    Miss Sterne war in einem Zimmer hinter mir. Die Tür stand offen, ich wusste, dass sie zuhörte und sich Notizen machte.
    – Also, sagte Ford. – Warum hast du die Geschichte nicht gelesen?
    Ich starrte in die schwarzen Brillengläser. Sah dahinter – ebenso schwarz – die Augen.
    Die Geschichte machte mir Angst, aber das mochte ich Ford nicht sagen. Sie kam nicht von mir, hatte mit mir nichts zu tun. In dieser
Saturday Evening Post
lauerte eine Falle. Ich würde die Zeitschrift nicht anfassen.
    Mit den Besprechungen war es was anderes. Wenn ich zu seinen Besprechungen kam, merkte ich, dass er mich wieder vom Kopf auf die Füße stellte.
    Der andere Mann hustete.
    – Husten Sie wirklich? fragte Ford.
    – Ja.
    – Möchte ich bezweifeln, sagte Ford.
    Er sah von mir weg.
    – Hat aber funktioniert, sagte er.
    Er sah wieder mich an.
    – Lies die Geschichte, verlangte er.
    Ich sagte nichts. Vielleicht habe ich genickt.
    – Ich muss dieses Fahrrad sehen, sagte er.
    Ich hatte ihm von dem Fahrrad erzählt, das ich mir unter den Nagel gerissen hatte und mit dem ich und Miss O’Shea zum Postamt geradelt waren.
    – Gut, da bin einmal ich, sagte ich.
    – Richtig.
    – Und da ist sie.
    – Bestens.
    Ich breitete die Arme aus, um die Frau auf der Querstange zurechtzusetzen. Der Mann neben mir schrieb wie besessen.
    – Sie hatte einen Rahmen für die Maschinenpistole gemacht, sagte ich. – Auf dem Lenker.
    – Singt sie? fragte Ford.
    – Auf dem Rad?
    – Auf dem Rad, auf dem Klo, egal. Hat sie jemals gesungen?
    Ich wusste es nicht.
    – Kann schon sein, sagte ich.
    Ich konnte mich nicht erinnern, ob Miss O’Shea sang, ob sie je gesungen hatte, ich konnte sie nicht hören. Da war plötzlich ein Loch, ein Schmerz, der die ganze Zeit da gewesen war. Ich konnte sie sehen. Zum ersten Mal seit Jahren konnte ich ihre Augen sehen. Konnte sehen, wie sie gelacht hatte, als ich ein Kind war, das an einem Pult saß, und Jahre später, als ich ein Mann war, drei Minuten, ehe ich unter den langsam rollenden Zug fiel. Ich sah mir meinen eigenen gerissenen Film an, und Ford sah mir zu.
    Aber ich konnte sie nicht hören.
    Auch meine Kinder waren da, Saoirse und Rifle. Ihr strahlendes Lächeln und ihre Tränen. Stirnrunzeln und Stimmen, Schnodder und Gesang.
    Jetzt waren sie da, ich hörte, wie es lauter wurde.
    – We’re in the money, sagte ich.
    – Was? fragte Ford.
    – Das hat sie gesungen, sagte ich.
We’re in the Money
.
    Rifle legte den Kopf zurück und brüllte das Lied gen Himmel, und Saoirse und Miss O’Shea stimmten ein. Ich hörte nur zwei Stimmen, aber sie hatte auch gesungen. Ich sah sie jetzt, wie sie mit langen Schritten und pendelnden Armen zwischen meiner Tochter und meinem Sohn ging.
    –
We’re in the Money
, sagte Ford. Einer dieser Songs aus der Zeit der Großen Depression, nicht? 1933, 1934?
    – So ungefähr, sagte der Mann neben mir.
    Ford nahm die Ellbogen vom Schreibtisch und rutschte tief in seinen Stuhl.
    – Also ... sagte er schließlich. – Du bist auf dem Fahrrad, Henry?
    – Ja.
    – Du bist auf dem Fahrrad.
    Ganz leise sprach er jetzt.
    – Ja, sagte ich.
    Ich hörte ihre Stimme nicht mehr.
    – Das hat sie gesungen, sagte ich. –
We’re in the Money
.
    – Aber nicht im Krieg, sagte Ford. – Nicht 1920 in Irland.
    – Nein.
    – Später.
    – Da kommen wir noch hin, sagte er. – Du sitzt auf dem Rad. Du fliegst.
    – Ja.
    – Bergab.
    Ich wusste es nicht, aber es fühlte sich so an. Ich spürte die Pedale unter meinen Füßen – zwei Füßen. Ich spürte die Anstrengung in den Beinen. Ich roch ihr Haar und ihre Jacke und Rauch und Feuchtigkeit aus dem Haus ihrer Mutter und die Rasensoden, auf denen sie in der
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