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Die Rote Spur Des Zorns

Die Rote Spur Des Zorns

Titel: Die Rote Spur Des Zorns
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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wurde.«
    Russ zog die Brauen hoch.
    »Eine der Krankenschwestern hat Paul Dr. Dvoraks persönliche Habseligkeiten gegeben – Kleider und dergleichen. Darunter auch eine sehr teure Armbanduhr und eine Brieftasche voller Kreditkarten. Alles nicht angerührt.«
    »Ich wünschte fast, man hätte ihn bestohlen. Wir werden auf Emils Wagen ein paar gute Fingerabdrücke finden, aber die nützen uns gar nichts, wenn der Täter nicht bekannt ist.« Der Donner grollte, näher und lauter als vorher. Russ sah zum Himmel. Schwere Wolken, auf deren Bauch matt die Straßenbeleuchtung von Glens Falls schimmerte, zogen herauf. »Zeit zum Aufbruch. Wenn Sie wollen, können Sie mir nach Millers Kill nachfahren.«
    Clare griff in die Tasche ihres Rockes und zog die Schlüssel heraus. »Das muss ich sogar.« Er sah zu, wie sie in diese lächerliche Wanze von einem Auto stieg. Wieder so ein unpraktisches kleines Ding, und ein Kabrio obendrein. Er schüttelte den Kopf. Letzten Winter war sie mit ihrem alten MG so oft gerutscht, geschlingert und liegen geblieben – hatte bei dem Versuch, den Tenant Mountain in einem Schneesturm zu überqueren, den Wagen sogar zu Schrott gefahren –, dass man meinen sollte, sie hätte es besser wissen und sich etwas Vernünftiges zulegen müssen, mit Allradantrieb. Aber Fehlanzeige!
    Als Russ in seinen Streifenwagen stieg, wurde ihm plötzlich klar, dass er sich nicht mehr wie ein hormongeplagter Teenager vorkam, sondern wie … ein guter Bekannter. Ein Kamerad. Das Zusammensein mit Clare hatte ihm gefallen, ohne dass er sich deshalb zum Affen machte. Er griff nach dem Mikrofon seines Funkgeräts und gab sein Fahrtziel durch. Endlich würde er sie hinkriegen, diese Gute-Freunde-Geschichte.

4
    B ei ihrem Erwachen am Donnerstagmorgen hatte Clare das Geräusch von Rotorblättern im Kopf. Während die Sonne aufging, joggte sie durch die von Bäumen gesäumten Straßen ihres Viertels, bog nach Osten ab und lief entlang der Route 117 zurück, parallel zum Riverside Park und zu den leer stehenden Fabriken aus dem neunzehnten Jahrhundert. Donnerstags joggte sie nie lange, um duschen zu können und rechtzeitig für die Morgenandacht, werktags um sieben Uhr, fertig zu sein. Diese Andacht mochte sie besonders gern: eine heitere, intime Veranstaltung mit den fünf, sechs Gesichtern, die regelmäßig dort erschienen. Seit dem Heldengedenktags-Wochenende vor einem Monat war ihre Sonntagsgemeinde dahingeschmolzen wie Schnee in der Sonne. Sie konnte von Glück sagen, wenn sich zum Zehn-Uhr-Gottesdienst dreißig Gesichter blicken ließen. Aber auf ihre Schäfchen bei der Morgenandacht war Verlass, und egal, wie nervös und aufgewühlt Clare erschien, sie fand in der geordneten Abfolge von Gebeten, Psalmen und Gesängen immer ihren seelischen Mittelpunkt.
    Als sie heute allerdings mit ihrer winzigen Gemeinde das Zweite Lied Jesaja las, das Quaerite Dominium, überkam sie plötzlich der Gedanke an Paul und Dr. Dvorak. »Lasset das Böse seinen Weg aufgeben und den Ungerechten seine Gedanken; lasset ihn zum Herrn zurückkehren, und Er wird sich seiner erbarmen …« Pauls hoffnungsloser, verirrter Gesichtsausdruck. Dvoraks starre Gestalt im Zentrum eines Wirbelsturms von Aktivität. »Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege nicht eure Wege, spricht der Herr.« Sie versuchte sich vorzustellen, was jemand dazu veranlassen konnte, einen harmlosen Menschen halb tot zu prügeln. Das schien unendlich viel feindseliger, von unendlich mehr Hass erfüllt als Amerikas klassische Mordmethode: erschießen mit einem billigen Revolver. »So auch das Wort, welches strömt aus meinem Munde: Es wird nicht leer zu mir zurückkehren …« Irgendwann während ihrer allwöchentlichen Besuche im Altenpflegeheim war Paul für sie zum Freund geworden, einer der wenigen Menschen in Millers Kill, die der Anblick von Clares Priesterkragen nicht ins Stocken brachte. Jemand, der sich tagein, tagaus der Schwächsten und Verwundbarsten unserer Gesellschaft annahm. Nun war im Handumdrehen seine ganze Welt zusammengebrochen. Weshalb? Durch skrupellose Bosheit? Kalte Berechnung? Durch einen spontanen Wutausbruch? »Sondern es wird erfüllen, worum ich bitte, und gedeihen in dem, wozu ich es entsandt.« Sie wollte es genau wissen. Sie wollte wissen, warum. Und wer es getan hatte. Ein Monster? Sie glaubte nicht an Monster. Sie glaubte an die Erlösung. Aber an manchen Tagen fiel ihr das schrecklich schwer.
    Nach der Morgenandacht schaute
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