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Die rote Agenda

Die rote Agenda

Titel: Die rote Agenda
Autoren: Liaty Pisani
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Schlittschuh
lief, baute immer große technische Schwierigkeiten ein und präsentierte
Choreographien, die später legendär wurden. Seine Kür war stets reich an
originellen Elementen und klug auf die Musik abgestimmt, wobei er durch die
außergewöhnliche Schnelligkeit seiner Schritte das Publikum in Begeisterung
versetzte. Tatsächlich kam kein anderer ihm gleich, und eine Silbermedaille in
einem Wettkampf zu gewinnen, bei dem auch Korolenko antrat, wurde seit Jahren
als gleichwertig mit Gold betrachtet. Deshalb hatte man schon eine spezielle
»Korolenko-Medaille« vorgeschlagen, die in Zukunft Ausnahmeathleten zuerkannt
werden sollte.
    Verena und
Astoni setzten sich in die erste Reihe, um die Proben für die Aufführung zu
genießen. Bei der Gala am Abend würde jeder Eiskunstläufer zweimal auftreten,
in einem Kurzprogramm und einer Kür. Für das Kurzprogramm hatte Alberto Asnaghi
einen bekannten Song von Madonna ausgesucht, während er für die längere, freie
Darbietung eine Arie aus Tosca vorgezogen hatte.
    Als er
Astoni sah, glitt Alberto mit kraftvoll-eleganten [34]  Bewegungen zur Bande, um
ihn zu begrüßen. Er war ein gutaussehender, sympathisch wirkender junger Mann,
seine Beine vielleicht ein bisschen lang für den Eiskunstlauf. Sein
kastanienbraunes Haar trug er zu einem Pagenkopf geschnitten, und seine
strahlend blauen Augen hatten einen heiteren Ausdruck.
    »Danke,
dass du extra für mich gekommen bist«, sagte er mit einem Lächeln.
    »Du
scheinst in Hochform zu sein. Darf ich dir Verena Mathis vorstellen, meine
Patentochter.«
    Verena
lächelte und gab ihm die Hand. »Ich gratuliere, Paolo hat mir von Ihrem Erfolg
in Zagreb erzählt.«
    »Danke,
aber ich hätte besser sein können. Ich war zu aufgeregt und bin gestürzt, ein
Anfängerfehler bei einem Toeloop. Zum Glück war der Zar nicht da, sonst wären
wir alle auf der Medaillenliste einen Platz nach unten gerutscht. Ihr hättet
ihn eben sehen sollen…«
    »Wir sehen
ihn ja heute Abend. Aber vergiss nicht, wir kommen wegen dir!«, sagte Astoni.
»Und jetzt los, prob nur weiter, wir wollen nicht, dass du wegen uns Zeit
verlierst. Heute Abend, nach der Gala, essen wir zusammen. Wir feiern im
Cambio, passt dir das?«
    »Aber
sicher. Ich hoffe, dass ich es dann auch verdient habe!«, scherzte Alberto,
verabschiedete sich von ihnen und lief zurück in die Mitte der Eisfläche.
    Verena war
ein wenig enttäuscht, die Proben von Korolenko verpasst zu haben, doch sie
schob diesen Gedanken beiseite, um sich um Paolo Astoni zu kümmern. Der Freund
hatte sie, als sie sich vor dem Palavela trafen, mit der gewohnten Herzlichkeit
begrüßt, doch anschließend war er [35]  wortkarg gewesen. Er wirkte aufgewühlt,
und Verena wartete auf den richtigen Augenblick, um zu fragen, was los sei.
    »Es ist
fast Mittag«, sagte Astoni. »Was hältst du davon, eine Kleinigkeit essen zu
gehen? Hast du Zeit?«
    Verena
musste erst um drei Uhr in der Universität sein, also nickte sie.
    »Ja, aber
du bist mein Gast, wo du uns doch für heute Abend in ein so schickes Restaurant
einlädst. Wohin möchtest du gehen?«
    »Keine
Sorge, ich kenne da ein nettes Lokal.«
    Sie nahmen
ein Taxi vom Palavela ins Zentrum und gingen in ein Restaurant nicht weit von
der Piazza Castello. Als sie am Tisch saßen, sah Verena Astoni in die Augen.
    »Paolo, ist
irgendetwas passiert?«
    Er sah sie
traurig an. »Ich habe einen Freund verloren. Heute Morgen habe ich es erfahren,
kurz bevor wir uns getroffen haben.«
    »Oh, Paolo,
das tut mir leid! Aber du hättest es mir gleich sagen sollen. Wir hätten uns
auch ein andermal treffen können.«
    Astoni
schüttelte den Kopf. »Machst du Witze? Ich sehe dich inzwischen so selten… Es
ist so, dass mein Freund Richard Lowelly Grey getötet worden ist, in London. Er
war ein außergewöhnlicher Mensch, ich mochte ihn sehr.«
    »Getötet?«,
rief Verena aus.
    »Ja,
garrottiert, in seinem Haus in Kensington. Eine schreckliche und unerklärliche
Sache. Die Zeitungen sprechen von Selbstmord, aber ich glaube nicht daran.«
    Verena
streckte eine Hand über den Tisch aus. Dem [36]  betagten Professor sah man in
diesem Moment alle seine Jahre an, als hätte der Schmerz über diesen Verlust
ihn mit einem Mal altern lassen. Er rührte sie, und sie hätte ihn gern
getröstet, doch sie wusste, dass Worte nichts nutzen, wenn der Schmerz noch so
frisch ist.
    »Armer
Paolo«, murmelte sie nur. »Kann ich irgendetwas tun?«
    »Liebes«,
sagte Astoni und lächelte
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