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Die Risikoluege

Die Risikoluege

Titel: Die Risikoluege
Autoren: Klaus Heilmann
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Es gab weder ein Auffangreservoir, noch Warnsysteme oder Alarmpläne. Erst um 13.45 Uhr traf fachkundiges Personal ein und konnte den Reaktor auf unkritische Temperatur herunterfahren. Zu diesem
Zeitpunkt waren bereits 1800 Hektar Land auf Jahre vergiftet.
    Erst 27 Stunden nach der Wolke informierten die Verantwortlichen den Bürgermeister und die Polizei. Dass es sich bei dem Gift um Dioxin handeln könnte, wurde zunächst nicht erwähnt. Erst neun Tage später fiel dieses Wort zum ersten Mal.
    2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin, kurz: TCDD, ist der giftigste und bekannteste Stoff aus der Gruppe der Dioxine. Dioxin gilt als eines der stärksten Gifte, weniger als ein Milligramm kann tödlich sein. Rein rechnerisch ließen sich mit der bei dem Unfall ausgetretenen Menge Millionen Menschen vergiften, hieß es in Presseberichten. Das ist zwar reißerisch formuliert, aber es stimmt, und wo es hinpasst, sollte man es auch drastisch sagen.
    Auch das im Vietnamkrieg eingesetzte berüchtigte Entlaubungsmittel Agent Orange hat als Grundbaustein Trichlorphenol und enthält Dioxin. Die Mischung wird für viele Erkrankungen und schwere Missbildungen bei Babys verantwortlich gemacht, wie auch für die hautentstellende Chlorakne.
    Unfälle bei der Produktion von TCP hatte es schon in den 1950er-Jahren bei BASF in Ludwigshafen und bei Boehringer Ingelheim in Hamburg gegeben. Damals war Dioxin der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt. Boehringer Ingelheim stellte daraufhin seine TCP-Produktion auf niedrigere Temperatur um. Und genauso wie BASF warnte das Unternehmen vor den erkannten Risiken.
    Icmesa, Givaudan und Hoffmann-La Roche kümmerte dies allerdings wenig, obwohl man sich über die Gefahren einer Dioxinvergiftung durch die Anlage in Seveso durchaus im Klaren war. Und da man in Basel wusste, dass bei
der Herstellung von Pestiziden auch Dioxin als Nebenprodukt anfällt, wurden diese nicht in der sauberen Schweiz, sondern im schmuddeligen Norditalien produziert. Und die Verantwortlichen hatten Anweisung, die in der Umgebung des Werks ansässigen Bauern, denen Vieh verendete, unverzüglich zu entschädigen.
    Am 18. Juli 1976, also erst eine Woche nach dem Unfall, wurde das Icmesa- Werk geschlossen, zwei Tage später die leitenden Angestellten, Herwig von Zwehl und Paolo Paoletti, festgenommen. Und erst zu diesem Zeitpunkt wurde die Nachricht bestätigt, dass bei dem Unfall Dioxin freigesetzt worden war.
    Weil die gebotene Aufklärung über die Ursachen und mögliche Folgen vonseiten des Unternehmens fehlten und Horrornachrichten in den Medien erschienen - Schwangere in dem Gebiet mussten in den Zeitungen lesen, dass sie Monster gebären werden – griff Hysterie um sich. Den Frauen wurde anheimgestellt, abzutreiben. Nach offiziellen Angaben trieben etwa drei Dutzend Frauen ab, Schätzungen gehen jedoch von etwa hundert Aborten aus. Eine tragische Überreaktion, wie sich später herausstellte.
    Sukzessive wurden immer mehr Bürger der betroffenen Gebiete evakuiert, Tausende Kinder wurden in unbelastete Gebiete verschickt, zahllose Menschen bangten um ihre Gesundheit.
    Dr. Paolo Mocarelli, Professor für klinische Biochemie an der Universität Milano-Bicocca, der im ersten Jahrzehnt nach dem Unfall die biochemische Überwachung von rund 30 000 Dioxin-exponierten Menschen leitete, konnte die Folgen später relativieren. Als Ergebnis seiner Untersuchungen zeigte sich, dass niemand an einer Dioxinvergiftung gestorben war, an Föten keine Missbildungen
gefunden wurden, und auch später in dem betroffenen Gebiet keine vermehrten Frühgeburten oder Geburtsschäden aufgetreten waren. Es gab etwa 400 Fälle von Hautschädigungen, darunter 200 von Chlorakne. Bei den Krebserkrankungen fand man eine Zunahme von Lymphomen und Leukämien, sowie eine etwa verdoppelte Rate der Brustkrebserkrankungen. Insgesamt war die Sterblichkeit unter den Dioxinbelasteten nicht erhöht. Deutlich wurde hingegen, dass Dioxin offenbar eine hormonähnliche Wirkung hat. Diese spielt auch heute immer wieder eine Rolle, wenn Dioxin über Futtermittel in die Nahrungskette und damit ins Gespräch kommt.
    Bei Icmesa gab es gravierende Sicherheitsdefizite, die Arbeiter waren hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und verfügten über eine unzureichende Ausbildung. Aber auch die Sicherheitsstruktur des Hoffmann-La Roche-Konzerns war alles andere als perfekt. Jörg Sambeth, der 1976 technischer Direktor bei Givaudan war und später zu einer Haftstrafe auf Bewährung
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