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Die Reise nach Trulala

Titel: Die Reise nach Trulala
Autoren: Kaminer Wladimir
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ernst nehme. Ich wollte eigentlich Pilot werden, wie mein Onkel, habe aber den Gesundheitstest nicht bestanden.«
    »Wunderbar, dass Sie beide so ehrlich zu uns sind«, freuten sich die alten Frauen. »Sie können gehen.«
    Draußen beschimpfte ich Oleg.
    »Du verstehst das nicht«, erklärte er mir. »Die Aktivisten sind sehr misstrauisch geworden. Die neue Linie besagt nämlich, dass wir zu unseren Fehlern stehen müssen. Wir müssen aus unseren Fehlern lernen, also brauchen wir auch welche. Selbstkritik ist angesagt. Man muss nun jeden Scheiß über sich und andere erzählen, wenn man bei denen gut ankommen will. Hauptsache ehrlich. Du wirst sehen, sie genehmigen.«
    Er beruhigte mich. Trotzdem erhielt ich zwei Wochen später eine Absage. Der Grund dafür lag jedoch nicht beim Komitee für Internationale Freundschaft. Ein Student unserer Theaterschule, dazu noch ein Sohn eines berühmten Schauspielers, der gerne und oft Lenin spielte, hatte just in diesem Sommer versucht, über den Zaun des schwedischen Konsulats zu klettern, um politisches Asyl zu beantragen. Man schickte ihn zu seinem Vater zurück. Und die Studenten aller Theaterschulen des Landes wurden mit einem generellen Ausreiseverbot belegt. Und ich blieb in Moskau auf meinen wunderbaren Urinproben sitzen und musste meine DDR Einladung wegschmeißen. Erst fünf Jahre später schaffte ich den Sprung.
    Schon wenige Monate, nachdem wir Deutschland erreicht hatten, wurden wir von der gerade aufgelösten DDR als humanitäre Flüchtlinge anerkannt, die aus einem gerade in Auflösung begriffenen Land, der Sowjetunion, kamen. Statt der ostdeutschen Ausweise erhielten wir neue westliche Papiere, schöne blaue Reisepässe mit zwei schwarzen Streifen auf dem Umschlag. In den Pässen stand, dass dieses Dokument zwar nichts über unsere Staatsangehörigkeit aussagte, uns aber gleichzeitig die absolute Reisefreiheit gestattete: »For all countries«, stand auf Seite sieben. Das war natürlich rein theoretisch gemeint. Denn praktisch hieß das nur, wenn uns ein Land ein Einreisevisum erteilen würde, könnte es dies problemlos in den blauen Pass stempeln. Trotzdem genossen wir ab da die unbeschränkte Reisefreiheit. Mein Freund Andrej und ich planten dann auch schnell unseren ersten gemeinsamen Ausflug. Natürlich sollte es nach Paris gehen. Diese Stadt spielte in den Köpfen der Russen als fast unerreichbares Paradies schon immer eine besondere Rolle.
    Wir bereiteten uns gründlich auf unsere Reise vor und kauften einen Fotoapparat sowie zwei Busfahrkarten mit offenem Abreisetermin: »Paris erleben für neunundneunzig Mark hin und zurück«. Nun konnten wir eigentlich jeden Abend nach Paris losfahren. Das ging uns aber alles viel zu schnell. Um das Gefühl der absoluten Reisefreiheit noch etwas länger zu genießen, blieben wir erst einmal in unserem Heim in Marzahn. Wir saßen jeden Tag in der Küche, tranken weiter Bier und erzählten uns gegenseitig von Paris. Andrej erzählte, dass seine Cousine, die er noch nie im Leben gesehen hatte, seit Jahren in einem Schloss in der Nähe von Paris wohnte. Sie hatte es noch in den finsteren Jahren des Eisernen Vorhangs geschafft, einen französischen Adeligen in Moskau aufzureißen, ihn schnell zu heiraten und die Heimat zu verlassen. Seitdem galt sie in der Familie als verschollen. »Ich kann es gar nicht erwarten, sie endlich mal kennen zu lernen«, freute sich Andrej. Aus meiner Familie war nur Onkel Boris, der Flieger, einmal in Paris gewesen: als Tourist. Obwohl er bis zu seinem Tod 1981 niemals die Grenzen der Sowjetunion überschritten hatte.
    Als Kind konnte ich nie meine ganze Verwandtschaft aufzählen. Die Omas und Opas hatten so viele Brüder und Schwestern gehabt, die wiederum viele Kinder zur Welt gebracht hatten, welche dann ihrerseits mehrmals geheiratet hatten, dass man leicht die Übersicht verlieren konnte. Es war eine große Menschenmenge, die sich über die ganze Welt verstreut hatte und kaum noch als Familie wahrnehmbar war.
    Die meisten lebten in der Ukraine, meine Eltern und ich in Moskau.
    Es gab einige legendäre Persönlichkeiten in der Familie, von denen mir meine Eltern immer wieder gerne erzählten, wie etwa Onkel Simeon aus Leningrad, der ein leidenschaftlicher Kartenspieler war, große Schulden hatte und sich umbringen wollte. Er sprang vom Balkon seiner Wohnung im neunten Stock, brach sich dabei jedoch nur ein Bein und empfand seine wundervolle Rettung als Fingerzeig Gottes. Als Onkel Simeon aus
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