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Die Reise nach Trulala

Titel: Die Reise nach Trulala
Autoren: Kaminer Wladimir
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pflegen.
    Mein Freund Andrej kannte Korchagin und seine Freundin auch ein wenig. Er hatte mich damals oft im Theater besucht. Außerdem waren wir einmal alle zusammen in das Krankenhaus gefahren, wo Mascha ihren Sohn auf die Welt gebracht hatte. Und mit ihr, dem Säugling Nikolaj und noch einigen anderen Frauen aus der Abteilung Frühgeburten sind wir dann in der Parkanlage spazieren gegangen. Heute kann ich mich gar nicht mehr richtig daran erinnern, wie und warum uns diese Frauen dann überredet hatten, ihnen unsere Kleider zu überlassen. Sie müssten mal kurz in die Stadt, hatten sie behauptet. Am Ende hauten sie jedoch in unseren Klamotten ab, und wir drei Männer standen wie Idioten in der Parkanlage der Entbindungsstation herum, ohne Hosen und Mäntel, dazu noch jeder mit einem Kind auf dem Arm. Und Mascha war die Anführerin dieser Frauenbande gewesen.
    Damals konnte sich Mascha noch nicht entscheiden, ob sie mit Korchagin weiter zusammenleben wollte oder doch besser ohne ihn. Sie erlebten miteinander noch viele Abenteuer, bevor sie eine richtige Familie wurden. Und danach eigentlich auch noch. Das abenteuerliche Leben schien bei ihnen endlos weiterzugehen. Und nun standen sie hungrig am Kaiserdamm.
    »Wir haben gerade zwei Wochen in Paris verbracht«, erzählte Korchagin uns am Telefon, »und sind heilfroh, dass wir da lebendig rausgekommen sind. Jetzt wollen wir nach Hause, haben aber überhaupt kein Geld mehr.«
    »Bleibt, wo ihr seid, wir holen euch ab«, versprach ich ihm, »aber habt Geduld, Berlin ist ziemlich groß, es dauert mindestens zwei Stunden, bis wir aus Marzahn am Kaiserdamm sind.«
    Andrej und ich fuhren sofort los, gerieten aber in den traurigsten Pendelverkehr, den ich jemals in Berlin erlebt habe. Alle zwei Stationen mussten wir den Zug wechseln. Drei Stunden brauchten wir bis zum Kaiserdamm, und dort noch über eine Stunde, bis wir unsere Freunde gefunden hatten. Es regnete heftig, wir waren verzweifelt und müde, suchten aber immer weiter. Als wir Korchagin und Mascha endlich entdeckten, standen sie noch immer in einer Telefonzelle. Kurz nach Mitternacht kamen wir wieder in Marzahn an. Unser sonst stets verfluchtes Ausländerheim kam uns in dieser Nacht wie ein geliebter und ersehnter Zufluchtsort vor. Endlich zu Hause, dachten wir. Korchagin und Mascha pendelten den Rest der Nacht zwischen Badewanne und Kühlschrank hin und her, sie wollten schnell alles nachholen, was sie in Paris vermisst hatten: heißes Wasser, Tabak und warmes Essen. Wir ließen sie schließlich allein mit unserem Luxus und gingen völlig übermüdet ins Bett.
    Am nächsten Tag erst erzählten sie uns beim Frühstück, was ihnen in Frankreich widerfahren war. Seit Jahren stand Korchagin im Briefkontakt mit einem Herrn Snorowski in Paris. Snorowski war Schriftsteller und Dramaturg, aber in erster Linie politischer Dissident. Er hatte Anfang der Siebzigerjahre Russland verlassen oder wurde sogar als Andersdenkender rausgeschmissen und wohnte seitdem mit seiner Frau, einer Künstlerin und Herausgeberin der Kunstzeitschrift »Ernte«, in Paris. Korchagin wollte einmal zu Beginn der Perestroika ein Theaterstück von Snorowski inszenieren und damit für dessen künstlerisches Comeback in Russland sorgen. Viele alte Dissidenten kehrten damals gerade aus dem Ausland zurück, auch Solschenizyn packte schon seine Sachen. Doch Herr Snorowski schien auf das baldige Wiedersehen mit der Heimat nicht besonders scharf zu sein. »Nein«, antwortete er meinem Freund, als der ihn nach Moskau zur Theaterpremiere einlud,»schauen Sie lieber bei uns in Paris vorbei.«
    Korchagin verstand diese Höflichkeitsfloskel von Snorowski als ehrlich gemeinte Einladung. Er borgte sich das Geld für zwei Fahrkarten und fuhr zusammen mit Mascha nach Paris. Herr Snorowski empfing sie zuerst sehr freundlich und veranstaltete zu Ehren der beiden Gäste aus Moskau sogar eine Party. Obwohl der Mann schon fast zwanzig Jahre im Ausland lebte, schien er immer noch den russischen Trinktraditionen verbunden zu sein: Er leerte eine Flasche Wodka nach der anderen und bekam nicht einmal Farbe ins Gesicht. Auch die anderen alten Dissidenten und Künstler waren gut in Form. Viel besser als die Gäste aus der Sowjetunion. Korchagin, selbst ein erfahrener Trinker, kam kaum hinterher. Im Verlauf des Abends lud er Snorowski erneut zur Premiere seines Stückes nach Moskau ein. Er hielt sogar eine kleine Rede. »Es ist Zeit«, sagte er zu der alten Garde am Tisch,
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