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Die Reise nach Trulala

Titel: Die Reise nach Trulala
Autoren: Kaminer Wladimir
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dem Krankenhaus entlassen wurde, spielte er mit Erfolg weiter, beglich alle Schulden und emigrierte 1977 als Jude nach Australien. Dort gewann er bei einem allaustralischen Pokerwettbewerb den ersten Preis und wurde Millionär. Mein Vater besaß ein Foto, auf dem man Onkel Simeon sah, wie er im weißen Anzug, einen Stock in der Hand, vor seinem australischen Haus mit Garten stand und lächelte. Wie dieses Foto in unser Familienarchiv gekommen war, ist ein Rätsel. Meine Eltern hatten niemals Briefe aus Australien bekommen und schickten auch selbst nie welche dorthin.
    Eine weitere Legende aus dem Familienkreis war Onkel Boris, der fast sein ganzes Leben in Kasachstan verbracht hatte. Einmal, kurz vor den Olympischen Spielen 1980, als ich gerade in die achte Klasse ging, kam Onkel Boris nach Moskau zu uns zu Besuch. Er war der Bruder meines verstorbenen Großvaters und verkörperte in unserer Familie die Geschichte der Sowjetunion. An allen Abenteuern, die der primitive und später auch der entwickelte Sozialismus anbot, hatte Onkel Boris teilgenommen. Damals kam er nach Moskau, um sich irgendwelche Unterlagen abzuholen, die eine Aufstockung seiner Rente versprachen, und wohnte einen Monat lang in meinem Zimmer.
    Unsere Moskauer Wohnung war nicht groß: zwei Zimmer, insgesamt siebenundzwanzig Quadratmeter. Ich konnte damals noch gar nicht richtig einschätzen, wie klein sie war, weil alle Nachbarn und Freunde meiner Eltern die gleiche Wohnfläche besaßen. Erst Jahre später, als ich zur Armee ging und ein größeres Zimmer bezog, ging mir auf, dass wir die ganze Zeit in einem Papageienkäfig gelebt hatten. Siebenundzwanzig Quadratmeter. Allein das Klo in unserer Kaserne hatte hundert Quadratmeter.
    Onkel Boris lebte also in meinem Zimmer und erzählte mir Tag für Tag Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben. Als der Krieg anfing, besuchte er gerade eine Flugschule. Er wollte Flieger werden. 1944, als die sowjetische Armee schon halb Europa befreit hatte, meinte Stalin, nun wäre die Zeit gekommen, auch noch mit den Japanern abzurechnen. Alle Flugschüler wurden in den Fernen Osten geschickt, unabhängig davon, ob sie mit ihrer Ausbildung fertig waren oder nicht. Onkel Boris wurde Offizier und jagte ein ganzes Jahr lang den japanischen Flugzeugen zwischen den Bergen der Mandschurei hinterher. Zweimal wurde seine Maschine abgeschossen, einmal in China und einmal in Korea, aber er kam trotzdem heil aus dem Krieg zurück.
    Danach wurde er Wissenschaftler und arbeitete in dem Kollektiv mit, in dem der synthetische Kautschuk erfunden wurde. Dafür bekam er 1947 zwanzig Jahre Straflager aufgebrummt. Seine Frau, Tante Lisa, die ihn sehr liebte, hatte ihn aus Eifersucht denunziert. Onkel Boris war ein gut aussehender Mann, obendrein ein Kriegsheld, und in seinem wissenschaftlichen Institut von lauter Frauen umgeben. Er wurde zum Objekt ihres kollektiven Begehrens. Tante Lisa wollte ihn aber für sich allein haben und konnte die gierigen Blicke der anderen Frauen nicht ertragen. Sie wandte sich an die Sicherheitsorgane und erzählte ihnen, dass ihr Mann die geheime Formel für den sowjetischen synthetischen Kautschuk nach Japan verkaufen wolle. Dafür bekam mein Onkel zwanzig Jahre Straflager, und meine Tante fuhr frohen Herzens freiwillig mit in die Verbannung nach Kasachstan. Dort wohnten sie zusammen in einem Erdbunker in der Nähe des Dorfes Kandagach.
    Am Anfang war Onkel Boris auf seine Frau stinksauer: Sie habe seine Karriere ruiniert und solle nun gefälligst aus seinem Leben verschwinden. Doch im Laufe der Zeit vertrugen sie sich wieder. Die meisten Häftlinge im Lager waren deutsche Kriegsgefangene. Sie tauschten im Dorf bei den Einheimischen Seife gegen Tabak und bauten ansonsten in der Steppe den ersten Betrieb zur Produktion von synthetischem Kautschuk auf. Mein Onkel wurde dort Direktor. Deswegen wohnte er mit seiner Frau nicht wie die Deutschen und die übrigen Gefangenen in einer Baracke, sondern in einem extra für ihn eingerichteten Erdbunker mit Blick auf Kandagach. Er wurde jeden Morgen mit einem Pkw abgeholt und zur Arbeit gefahren. Auf dem Rücksitz saß aber immer ein Soldat mit einem geladenen Maschinengewehr und passte auf ihn, den Häftling, auf.
    Nach zwölf Jahren wurde mein Onkel rehabilitiert, er bekam sogar einen Orden von der Regierung, der irgendwann in der Schublade meines Vaters landete und zur Familienreliquie wurde. Auf der Vorderseite war Stalin im Profil abgebildet, auf der
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