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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin
Autoren: Peter Prange
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eindringlich, wie er sonst nur mit Erwachsenen sprach:
    »Alle Lebewesen, ob Tiere oder Pflanzen, haben nur ein Ziel: Sie wollen leben und sich weiterentwickeln. Das ist ihr Sinn und Zweck. Jedes Wesen versucht darum, sich in der Natur so viel Raum und Nahrung zu erobern, wie es dazu braucht.«
    Emily schaute auf die Seerose und dachte nach. Als ihr Vater die Pflanze vor drei Monaten in den Teich eingesetzt hatte, waren die Blätter noch kleiner gewesen als die Teller, aus denen sie zum Frühstück ihr Porridge aß, und jetzt waren sie groß wie die Wagenräder an der Kutsche des Herzogs.
    »Aber was ist«, fragte sie, »wenn es zu eng wird oder die Nahrung nicht für alle reicht?«
    »Dann verdrängen die Großen die Kleinen, die Starken die Schwachen. Denn keine zwei Arten, die sich auf dieselbe Weise ernähren, können in ein und demselben Lebensraum miteinander auskommen. Deshalb ist das Leben ein ewiger Kampf, undnur die Tüchtigsten können darin überleben. Das ist das Gesetz, der Wille des ewigen Schöpfergottes.«
    Emily fröstelte trotz der feuchten, schwülen Luft im Treibhaus, während die Worte in der Dunkelheit widerhallten, als hätte nicht ihr Vater sie gesagt, sondern der liebe Gott selbst. Das also war das Geheimnis des Lebens? Sie hatte schon oft gesehen, wie ein Habicht einen kleineren Vogel schlug oder der Fuchs ein Huhn vom Hof raubte, und in einem ihrer Naturkundebücher hatte sie das Bild von einer Gazelle entdeckt, die von einer Riesenschlange zu Tode gewürgt wurde. Aber wirklich verstanden hatte sie die Erklärung ihres Vaters deshalb noch nicht.
    »Kann der liebe Gott das wirklich wollen, dass die starken Tiere die schwachen einfach tot machen und auffressen?«
    »Ja, Emily, das muss so sein, auch wenn es uns grausam vorkommt. Stell dir die Natur wie einen weise regierten Staat vor, und die starken Tiere darin als die Polizisten oder Soldaten, die nur die Befehle der Regierung befolgen. Ihre Aufgabe ist es, für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Sie hindern die schwachen Tiere daran, sich allzu sehr zu vermehren, und räumen sie fort, bevor sie sich selbst oder anderen Geschöpfen zur Last fallen. Nur so bleibt das Gleichgewicht der Schöpfung bestehen.«
    Während Emily versuchte, den Sinn dieser Worte zu erfassen, schien sich der Teich vor ihr in den Kirchplatz von Chatsworth zu verwandeln, und die Pflanzenblätter in ihren Freund Victor und die anderen Dorfjungen, die dort jeden Tag rauften, so lange, bis einer von ihnen am Boden lag und sich nicht mehr wehren konnte.
    »Und die Menschen?«, fragte sie. »Kommt es bei ihnen auch nur darauf an, wer am stärksten ist?«
    »Ja, mein Liebling. Auch die Menschen wollen nichts anderes als leben und sich weiterentwickeln, immer größer und stärker werden, genauso wie die Tiere und Pflanzen. Dafür arbeiten sie und strengen sich an, dafür erforschen sie ferne Länder und Meere,dafür führen sie Kämpfe und Kriege. Und das Wunderbare daran ist, dass auf diese Weise die herrlichsten Dinge entstehen, die Erfindungen der Menschen genauso wie die Wunder der Natur.«
    »Auch durch Kriege?«
    »Deshalb brauchst du nicht zu erschrecken«, sagte Paxton, als er Emilys Gesicht sah. »Sicher, Krieg ist etwas Fürchterliches. Und trotzdem ist er nur ein Teil der großen Ordnung, wie Gott sie gewollt hat. Krieg entsteht ja aus ganz natürlichen Regungen des Menschen, aus seinem Willen zu überleben und Streben nach Gewinn, also aus sehr nützlichen Antrieben, die wir täglich brauchen, weil wir uns ohne sie in zahme und träge Wesen verwandeln würden, die an Hunger sterben müssten. Ja«, fügte er hinzu, »auch das gehört zum Geheimnis des Lebens, dass am Ende alles zum Guten beiträgt, sogar so fürchterliche Dinge wie Krieg.«
    Die Sätze, die ihr Vater sagte, kamen Emily vor wie schwierige Rechenaufgaben, und um sie zu verstehen, strengte sie ihr Gehirn so sehr an, dass ihr der Kopf davon wehtat. Doch lieber sollte er platzen, als dass sie zugeben würde, noch zu klein dafür zu sein. Kaum aber hatte sie das Gefühl, den Sinn der Worte einigermaßen begriffen zu haben, kam ihr eine neue Frage.
    »Warum verbietet Mama mir dann, mit Victor zu spielen?«
    »Was hat Victor damit zu tun?«, fragte Paxton verwundert zurück. Doch bevor sie antworten konnte, sprang er auf und trat ans Becken. »Da! Sieh nur! Sie hat sich bewegt!«
    Aufgeregt verließ auch Emily ihren Platz. Tatsächlich! Die Knospe zuckte im Wasser, ganz leicht, kaum dass man
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