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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin
Autoren: Peter Prange
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Moment verlor sie das Gleichgewicht, sie strauchelte und stolperte, griff in die Luft, um einen Halt zu finden, doch vergeblich.Ein Aufschrei – dann waren nur noch Wasser und Pflanzen und Algen um sie her, in einer stummen, schleimig grünen Unterwelt, in der die Rufe der Erwachsenen wie aus weiter, weiter Ferne an ihr Ohr drangen, vermischt mit dem Krächzen des Kakadus.
    »Leben! Leben!«
    Eine Hand packte Emily im Nacken und zog sie in die Höhe. Prustend und triefend tauchte sie aus dem Teich wieder auf. Während ihr Vater sie am Beckenrand absetzte, rief er mit lauter Stimme Befehle, und ein Dutzend Diener rannte davon.
    »Rosenblüten«, sagte die Königin. »Eigentlich eine ganz reizende Idee von dem Jungen. Wenn ich mir vorstelle, ein Mann würde das für mich tun … «
    »Wirklich reizend«, erwiderte Wellington, »wenn deshalb das Mädchen in den Teich fällt. Wie das Kind aussieht! Wie ein Soldat nach einer verlorenen Schlacht!«
    Emily blickte an sich hinab. Erst jetzt wurde sie gewahr, dass ihr neues weißes Kleid von oben bis unten voller grüner Algen war. Wenn das ihre Mutter sah … Doch wo war ihre Mutter?
    Als Emily sie entdeckte, stockte ihr der Atem. Ihre Mutter war nicht mehr im Gewächshaus – sie war draußen, auf der anderen Seite der Glaswand, und trieb zwei Lakaien an, die gerade versuchten, Victor von einem Baum herunterzuzerren. Ihr Freund wehrte sich mit Armen und Beinen gegen die Verfolger, schlug und trat nach ihnen, so gut er nur konnte. Emily schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er ihnen entwischte. Doch es kamen noch mehr Diener angerannt, zu fünft, zu sechst fielen sie über Victor her, packten ihn an den Armen, an den Beinen und schleiften ihn davon.
    Bevor Victor hinter einer Hecke verschwand, drehte er noch einmal den Kopf zu Emily herum und schaute sie an, die Augen riesengroß vor Angst und Schmerz und Wut.

4
     
    Nacht war auf das Land herab gesunken, doch die Gärten von Chatsworth erstrahlten in einem Lichtermeer, das weiter als das Auge reichte. Wie ein Märchenschloss funkelte und glitzerte das Seerosenhaus in der Finsternis, und während irgendwo ein unsichtbares Orchester die Nationalhymne anstimmte, ergossen sich die Wasserfälle zwischen den künstlichen Felsengebirgen des Parks im Schein von bengalischem Licht, in dem die herabstürzenden Fluten abwechselnd weiß oder blau oder rot aufschäumten. Tausende von Lampions blinkten in den Bäumen und Hecken, und die Seen und Brunnen spiegelten die Lichter noch einmal so vieler Laternen wider. Eine Kanone wurde vom Jagdturm abgefeuert, dann erbrachen sich Hunderte von Feuergarben prasselnd am Himmel, der in Flammen zu stehen schien. »Hat sich das auch dieser reizende Mr. Paxton ausgedacht?«, fragte die Königin, die das Schauspiel zusammen mit ihrem Hofstaat vom Balkon des Schlosses aus betrachtete.
    »Allerdings«, erklärte der Herzog von Devonshire. »Es gibt praktisch nichts, was dieser Mann nicht kann.«
    »Ganz erstaunlich für einen Gärtner«, knurrte Feldmarschall Wellington. »Diesen Paxton hätte ich als General gebrauchen können.«
    Während die königliche Gesellschaft zusah, wie die Raketen in der Finsternis verglühten, stand Emily im Nachthemd vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers und starrte in ihr eigenes Gesicht. Diese verquollenen Augen, diese triefende Nase, dieser zitternde Mund – wie hasste sie das Mädchen, das ihr von der kalten, silbern schimmernden Fläche an der Wand entgegenblickte!
    Sie hatte die Vorhänge zugezogen, um nichts zu hören oder zu sehen. Wie immer, wenn sie es nicht mehr aushielt, weil sie etwas Schlimmes getan hatte, das sich nicht mehr rückgängig machen ließ, verzerrte sie ihr Gesicht vor dem Spiegel zu Fratzen,kniff die Augen zusammen, krauste die Nase, stülpte die Lippen auf, um sich selbst nicht mehr erkennen zu müssen in den Zuckungen ihrer Züge. Und doch, je fremder sie sich mit jeder Grimasse wurde, mit denen sie ihrem Spiegelbild näher und näher rückte, als wolle sie es aus der Glasscheibe verjagen, umso unausweichlicher wurde die quälende Gewissheit, dass immer wieder sie es war, die da ihr Gesicht verzog und verzerrte: Emily Paxton, dasselbe Mädchen, das vor wenigen Stunden der Königin die Seerosen gezeigt hatte, dasselbe Mädchen, das die Schuld trug an allem, was danach geschehen war. Noch immer hörte sie die Schreie ihres Freundes, wie er im Hof verprügelt worden war. Noch nie hatte sie jemanden so schreien hören, weder einen Menschen
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