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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin
Autoren: Peter Prange
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verschwunden, aber das ging nicht. Er hatte Emily für den Besuch der Königin eine Überraschung versprochen, an die sie sich ihr Lebtag erinnern sollte, und wenn er jetzt kniff, konnte er Emily nie wieder in die Augen schauen, in diese wunderschönen türkisgrünen Augen … Um seine Angst zu überwinden, dachte er an den Lohn, den sie ihm versprochen hatte. Wenn er sich tatsächlich trauen würde, sein Versprechen wahr zu machen, wollte sie ihm einen Kuss dafür geben – einen richtigen, wirklichen Kuss auf den Mund!
    Obwohl Victor am ganzen Körper zitterte, kroch er über das Glasdach voran, ohne darauf zu achten, ob man ihn dort unten sah, bis er die Luke über dem Seerosenteich erreichte.
    Dann nahm er den Sack von seiner Schulter und öffnete die Schnürung.

3
     
    »Da haben wir ja unser kleines Opfer! Nur Mut, Miss Emily!« Ein feiner Duft wie von reifer Ananas strömte Emily vom Seerosenteich entgegen, als sie unter den Blicken der Königin an den Rand des Beckens trat. Über ein Dutzend Knospen hatten sich in den letzten Nächten geöffnet, um ihr süßliches Aroma zu verströmen, weiße und zartrosa Blütenbüschel, die so groß waren, dass Emily sie nicht mit beiden Händen hätte umfangen können, und die trotzdem wie schwerelos zwischen den grünen Pflanzenblättern im Wasser trieben.
    »Wird ihr auch nichts passieren?«, fragte ihre Mutter.
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Paxton«, erwiderte der Herzog. »Ihr Mann hat mir sein Wort gegeben.« Noch während er sprach, fasste er Emily unter den Achseln, und ehe sie sich’s versah, hob er sie über den Beckenrand und stellte sie auf eines der riesigen Pflanzenblätter. »Nur ein kleines Experiment.«
    Emily wusste, was ihre Aufgabe war, ihr Vater hatte es ihr genau erklärt. Sie sollte der Königin und Feldmarschall Wellington beweisen, dass die Blätter der Pflanze stark genug waren, um einen Menschen zu tragen. Vorsichtig wie eine Ballerina setzte sie ihre Füße auf den schwankenden Grund. Jetzt nur keine falsche Bewegung! Der frisch gestärkte Unterrock, in den ihre Mutter sie am Morgen gesteckt hatte, damit ihr Kleid sich über der Hüfte bauschte, fing auf einmal so heftig an zu kratzen, dass sie es kaum aushielt.
    »Da! Ich habe es gewusst!«, rief der Herzog. »Es funktioniert! Sie könnte stundenlang darauf stehen bleiben, ohne dass sie untergeht.«
    »Kolossal!«, sagte die Königin. »Gibt es dafür eine Erklärung?«»Eine
    Ingenieursleistung der Natur, Majestät«, erwiderte Paxton. »Die Blätter werden auf der Unterseite durch ein sternförmiges Rippengeflecht zusammengehalten. Das macht sie sostark. Sie könnten ein noch viel höheres Gewicht aushalten. Ich denke, bis zu zweihundert Pfund.«
    Während ihr Vater sprach, kam es Emily vor, als würden die geheimen Kräfte des Pflanzenblattes durch ihre Füße und Beine hinauf in ihren Körper strömen. Ein jubelndes Glücksgefühl breitete sich in ihr aus. Sie konnte, was kein Mensch sonst konnte – sie konnte auf dem Wasser stehen und wandeln!
    »Was zum Teufel macht der Dreckspatz da oben?«
    Emily schaute hinauf in die Richtung, in die der alte Feldmarschall mit seinem Stock zeigte.
    »Victor …«
    Über dem Wipfel einer Palme sah sie ihren Freund – er lag bäuchlings auf dem Glasdach, direkt über ihr, das Gesicht in einer offenen Luke, und blickte mit triumphierendem Grinsen auf sie herab. Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. Er hatte sich wirklich getraut! Gleichzeitig erschrak sie zu Tode. Victor hatte sie schon einmal von dort oben überrascht – damals hatte er einen Sack Blindschleichen auf sie herabgeworfen.
    »Nein, Victor!«, rief Emily. »Tu’s nicht!«
    Zu spät! Victor hatte den Sack bereits geöffnet und begann zu schütteln. Entsetzt schaute sie in die Höhe. Doch was war das? Unzählige Schneeflocken rieselten auf sie herab, riesengroße Flocken, viel größer, als sie in ihrem Leben je gesehen hatte, obwohl doch gar kein Winter war. Plötzlich begriff sie: Nein, das war kein Schnee – das waren Rosenblätter, die Victor auf sie herabstreute, Tausende und Abertausende, vor den Augen der Königin … Der ganze aufgestaute Jubel, die ganze aufgestaute Angst lösten sich in einem jauchzenden Freudenschrei.
    Da geschah die Katastrophe. Ein weißes Ungeheuer flatterte krächzend auf sie zu, das große, feste Pflanzenblatt, das sie eben noch so sicher getragen hatte, begann zu schwanken, und ihre Füße kamen auf dem glitschigen Grund ins Rutschen. Im selben
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