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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin
Autoren: Peter Prange
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Obwohl der Mai schon begonnen hatte, war der Himmel von grauen Wolken verhangen. Ein feiner, nasskalter Nieselregen fiel auf die rußigen Dächer der Fabriken, die sich in der Nachbarschaft des Gefängnisses erhoben, und ein böiger Wind kündigte ein Unwetter an. Für eine Sekunde überkam Victor ein so flaues Gefühl, dass er sich fast in seine Zelle zurücksehnte. Wohin sollte er gehen? Die meisten Häftlinge, die mit ihm entlassen worden waren, zogen nach Süden, in Richtung Stadt, einige wenige nach Norden, hinaus aufs Land, diemeisten aber in ein Public House gegenüber, um dort mit einem Mädchen oder Freund das Geld zu vertrinken, das sie gerade bekommen hatten.
    Mit lautem Knarren schloss sich hinter Victor das Tor der Strafanstalt, ein Riegel wurde vorgeschoben, Eisen knirschte auf Eisen, dann rasselte ein schwerer Schlüssel im Schloss. Erst in diesem Moment begriff er, was passiert war, spürte und empfand es mit jeder Faser seines Leibes: Er war
frei
! Jetzt endlich fiel der Panzer von ihm ab, hinter dem seine Seele sich verkrochen hatte, um das äußere Gefängnis zu ertragen, und in seiner Brust drängte ein Gefühl empor, dass er kaum noch kannte. Er konnte gehen, wohin er wollte, nach London, nach O’Connorville, nach Amerika, ganz gleich wohin, und kein Oberaufseher Walker, kein Direktor Mayhew würde ihn daran hindern. Tief atmete er die Morgenluft ein, die plötzlich so sauber und frisch schmeckte wie Quellwasser. Den Schilling in der Tasche, hob er seinen Blick. Seit fast zwei Jahren schaute er zum ersten Mal wieder in den offenen Himmel, ohne ein Gitter vor den Augen. Mein Gott, wie sehr hatte er das vermisst! Und als er die beiden Flügel der Tretmühle über der roten Backsteinmauer in die Höhe steigen sah, hatte er nur noch einen Gedanken: Nie wieder würde er an diesen Ort zurückkehren! Lieber würde er verrecken!
    »Hier, ich habe eine Adresse für dich.«
    Victor drehte sich um. Mr. Tallis, der Meister der Anstaltsdruckerei, stand vor ihm.
    »Eine Adresse?«
    »Von einer Werkstatt in der Drury Lane.« Tallis reichte ihm einen Zettel. »Jeremy Finch, ein Säufer, der unter dem Pantoffel seiner Frau steht, und außerdem ein brutales Schwein. Er ist wegen seiner Sauferei fast pleite und kann einen guten Mann wie dich dringend brauchen.«
    Victor blickte den Meister unschlüssig an. Tallis drückte ihm den Zettel in die Hand. »Melde dich da. Niemand außer Finch wird dir sonst Arbeit geben. Er ist deine einzige Chance.«

2
     
    »Das Gewächshaus platzt aus allen Nähten«, sagte Joseph Paxton.
    »Deine eigene Schuld, Papa«, erwiderte Emily. »Du bist einfach ein zu guter Gärtner.«
    »Von wegen, mein Fräulein! Schieb ja nicht mir allein die Schuld in die Schuhe. Wer hatte denn die Idee mit dem elektrischen Licht?«
    »Schon gut, du alter Schmeichler, eine klitzekleine Mitschuld gebe ich ja zu. Trotzdem, wir müssen etwas unternehmen. Der Platz reicht einfach nicht aus, die Pflanzen können sich nicht mehr entfalten. Die ersten sind uns schon eingegangen.«
    »Jetzt reg dich nicht so auf. Ich habe ja schon mit dem Herzog darüber gesprochen.«
    »Das verrätst du mir erst jetzt? Und – was hat er gesagt?«
    »Er ist mit dem Neubau einverstanden.«
    »Aber das ist ja großartig, Papa!«
    »Sicher – wenn ich nur wüsste, woher ich die Zeit dafür nehmen soll. Irgendjemand muss die Arbeiten schließlich beaufsichtigen. Aber sag mal, hast du die Zeichnungen für das
Magazine
fertig? Die müssen allmählich in Druck.«
    Wie jeden Sonntagabend saßen Emily und ihr Vater am Seerosenteich, um die Aufgaben der kommenden Woche zu besprechen. Die Errichtung eines neuen, größeren Gewächshauses war dabei schon seit Monaten ein Thema. Emilys Idee, im Winter die Pflanzen täglich morgens und abends zwei Stunden mit Kunstlicht zu bescheinen, damit sie in der fremden Umgebung genauso viel Helligkeit wie in ihrer natürlichen Heimat bekamen, hatte dazu geführt, dass die Seerosen nicht nur immer üppiger wuchsen, sondern sich auch in ungeahnter Weise vermehrten. Das über- und ineinander wuchernde Pflanzenwerk erinnerte inzwischen mehr an einen Dschungel als an eine systematischgezüchtete Kultur, die den Regeln und Prinzipien moderner Gärtnereikunst gehorchte.
    Zwölf Jahre war es nun her, seit es Paxton als erstem Gärtner Europas gelungen war, die
Victoria regia
zum Blühen zu bringen, und Emily bewahrte noch heute die Zeitungsartikel, die sie stehend auf dem Blatt der Pflanze zeigten, in
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