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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin
Autoren: Peter Prange
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bleibt.« Mayhew blätterte in den Papieren, die der Schreiber ihm reichte. »Wie ich sehe, hast du einem Polizisten den Arm gebrochen? Bei einem Streik in einer Ziegelfabrik?«
    »Notwehr, Sir. Ich habe mich nur verteidigt, Sir. Die Polizisten haben die Ziegelmacher niedergeknüppelt und …«
    »Du hast dich den Anordnungen deines Brotherrn widersetzt. Man legt dir Widerspenstigkeit und Rädelsführerei zur Last. Was hattest du überhaupt in der Ziegelei zu suchen?« Der Direktor warf einen zweiten Blick in seine Unterlagen. »Hier steht, du bist Drucker von Beruf.«
    »Ich musste Geld hinzuverdienen. Meine Mutter war krank, der Arzt nahm zwei Schilling für jeden Besuch, und ich wollte, dass sie ein eigenes Grab bekam.«
    »Hinzuverdienen, obwohl du bereits eine Anstellung hattest? Ist dir bewusst, dass du damit anderen Menschen Arbeit und Brot gestohlen hast?« Mayhew schüttelte den Kopf. Dann fragte er: »Was wirst du tun, wenn du wieder frei bist? Hast du Pläne?«
    Victor zögerte. Ja, er hatte Pläne, aber sie gingen den Direktor nichts an. Er wollte London verlassen, so bald wie möglich, um nach O’Connorville zu ziehen, Richtung Norden, in die Nähevon Rickmansworth. Dort hatten die Chartisten, die größte Arbeiterbewegung im Land, eine Kommune gegründet, in der jeder Mann, der hundert Pfund besaß, einen Anteil erwerben konnte, um auf eigene Rechnung zu arbeiten, zusammen mit Gleichgesinnten, ohne dass er von irgendwelchen Blutsaugern ausgebeutet wurde. Die Vorstellung, dort einmal zu leben und vielleicht eine eigene Werkstatt zu betreiben, hatte Victor während all der endlosen Tage und Wochen und Monate seiner Haft am Leben erhalten. Laut sagte er nur:
    »Ich will versuchen, Arbeit zu finden, Sir.«
    »Recht so, sehr brav.« Direktor Mayhew nickte zufrieden, als hätte er soeben ein Stück Streuselkuchen vertilgt. »Immerhin hast du einen Beruf erlernt.«
    »Jawohl, Sir.«
    »Ich hoffe, du wirst ihn nutzen. Die Buchdruckerkunst ist ein edles Handwerk, das den Menschen läutert und erhebt. Weil es ihn nicht nur anleitet, über die Feinheiten der Sprache, sondern auch über die Reinheit seiner Gedanken und Empfindungen nachzusinnen.«
    Der Anblick des rosigen, selbstzufriedenen Streuselkuchengesichts verursachte Victor Übelkeit, und nur mit Hilfe seiner ganzen Willenskraft konnte er den aufsteigenden Jähzorn, der ihm schon einmal zum Verhängnis geworden war, herunterwürgen. Liebend gern hätte er sein Handwerk in den letzten Monaten ausgeübt, er hatte bei dem besten Drucker Londons gelernt und hätte in der Anstaltsdruckerei sinnvollere Arbeit leisten können als in der verfluchten Tretmühle, aber Mayhew persönlich hatte es ihm verwehrt. Nur wer nicht zu Schwerarbeit verurteilt war, so hatte der Direktor beschieden, besaß das Vorrecht, während der Haft in seinem Beruf zu arbeiten. Eine einzige Woche lang hatte Victor in der Werkstatt aushelfen dürfen, als alle Drucker bis auf Mr. Tallis, den Meister, ausgefallen waren und Direktor Mayhew um die Fertigstellung der Gefängnisbibeln bangte.
    »Hast du schon eine Anstellung?«, fragte er. »Vielleicht bei deinem altem Lehrherrn?«
    Victor schüttelte den Kopf. »Mein Lehrherr ist mit dem Besitzer der Ziegelei verwandt.«
    »Nun, dann hat der Mann allen Grund, sich vor dir zu fürchten. Aber wenn du dich aufrichtig bemühst, wirst du schon Arbeit finden. Fleiß und Tugend werden am Ende immer belohnt. Hast du Geld?«
    »Nein, Sir.«
    »Dann schenke ich dir einen Schilling. Geld ist der beste Freund eines Mannes, der einen neuen Weg beschreitet.« Er gab ihm die Münze, zusammen mit den Entlassungspapieren. Dann schaute er über die Schulter nach dem Schreiber. »Wer ist der Nächste?« Eine halbe Stunde später trat Victor durch das Gefängnistor ins Freie. Wie oft hatte er sich diesen Moment in seiner Zelle ausgemalt, mit welcher Ungeduld hatte er ihn jede Minute während der verfluchten Haft herbeigesehnt – doch jetzt, als er endlich da war, war nichts so, wie er es sich vorgestellt hatte. Kein Panzer fiel von ihm ab, kein Jubel drängte in seiner Brust. Ein Fleischerkarren zuckelte am Tor vorbei, wie wahrscheinlich jeden Morgen, und auf der anderen Straßenseite unterhielten sich zwei Hausfrauen vor einem Gemüseladen mit einem Milchmädchen, ohne Victor die geringste Beachtung zu schenken.
    Er schaute sich um. Niemand war da, der auf ihn wartete. Wer auch? Seine Mutter war tot, und seine früheren Kollegen hatten ihn längst vergessen.
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