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Die Rebellen von Irland

Die Rebellen von Irland

Titel: Die Rebellen von Irland
Autoren: Edward Rutherfurd
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hatte und wusste, dass ihr Vater sie innig liebte, spürte sie doch eine schmerzhafte Leere in ihrem Leben, denn ihr fehlte die Liebe und die Gegenwart ihrer Mutter.
    Nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr traf sie Patrick wieder. Es war Annes Idee gewesen, Orlando mitzunehmen. Schließlich konnte ein Mädchen wie sie nicht einfach täglich verschwinden, ohne dass es irgendjemandem aufgefallen wäre. Und alleine, dazu noch ohne die Erlaubnis ihres Vaters, mit einem jungen Mann spazieren zu gehen, wäre völlig undenkbar gewesen. Also hatte sie zu dieser List gegriffen.
    Aber sie fühlte sich nicht gut dabei.
    Sie war ein normales junges Mädchen, kein leichtfertiger Mensch. Sie glaubte an die wahre Religion ihrer Vorväter. Sie liebte ihre Familie und vertraute ihr. Jeden Abend betete sie für die Seele ihrer Mutter und bat die heilige Jungfrau, sich ihrer anzunehmen. Sie verabscheute es, ihren Vater zu hintergehen, denn sie wusste, dass dies eine Sünde war. Wäre ihre Mutter noch am Leben gewesen, dann hätte sie sicherlich mit ihr über Patrick Smith gesprochen, aber mit einem Vater ging das nicht so leicht. Dennoch wünschte sie sich seinen Rat. Mehrere Male stand sie kurz davor, sich ihm anzuvertrauen, aber eines hielt sie immer wieder zurück: die Angst. Sie hatte Angst, ihr Vater werde ihr verbieten, Patrick wiederzusehen.
    Sie brauchte ihn. Wenn sie mit ihm die Feldwege entlang spazierte, fühlte sie sich so leicht und glücklich wie nie zuvor. Wenn er dicht neben ihr stand, erbebte sie innerlich. Wenn seine weichen braunen Augen in ihre blickten, dann glaubte sie zu zerschmelzen. Die aufregenden heimlichen Treffen und die wachsende Gewissheit, dass auch er sie liebte, füllten die Leere, die der Tod ihrer Mutter hinterlassen hatte. Als der Sommer sich dem Ende zuneigte, konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.
    Was hätte ihr Vater gesagt, wenn er davon gewusst hätte? Er wäre sicherlich eingeschritten. Und an die Reaktion ihres Bruders Lawrence wollte sie lieber gar nicht denken. Nein. Sollte ihre Familie etwas herausfinden, dann würde sie Patrick Smith nie wieder treffen können.
    Vor einer Woche schließlich hatte Patrick sie gebeten, seine Frau zu werden. Sie wussten, dass die Angelegenheit langsam und schicklich vonstatten gehen musste. Sein Vater würde sich mit dem alten Walsh in Verbindung setzen. Die Liebenden waren sich längst einig – jetzt mussten sich ihre Angehörigen beschnuppern. Selbst falls Patricks Vater davon gewusst hatte, dass sein jüngerer Sohn einem Mädchen den Hof machte, durfte Martin Walsh nichts davon erfahren. »Ich wage nicht, es ihm jetzt zu sagen«, sagte Anne. »Wenn er denkt, wir hätten ihn hintergangen, dann würde ihn das sehr verletzen und vielleicht gegen uns einnehmen.«
    Einen schrecklichen Moment lang hatte sie gefürchtet, Orlando würde eine verräterische Bemerkung herausrutschen. Aber er hatte sich seines Versprechens erinnert und den Mund gehalten. Sie beschloss, morgen noch einmal ein – sehr deutliches – Gespräch mit ihm zu führen, bevor sie abreiste.
    Mit etwas Glück waren sie und Patrick bereits einander versprochen, wenn sie das nächste Mal aus Frankreich zurückkam. Und ihr lieber Vater würde glauben, er selbst habe das alles arrangiert.
    ***
    Martin Walsh hatte sich von Lawrence abgewendet und blickte nachdenklich zurück auf Anne. Sie war zu einer stattlichen jungen Frau herangewachsen, und sie erinnerte ihn bereits an seine geliebte Gattin. Aber sie war auch noch ein unschuldiges Mädchen, das er beschützen musste. Nun, er würde mit seinem Cousin Doyle über die Familie Smith sprechen. Aber in einer Hinsicht war er bereits jetzt fest entschlossen: Annes Glück zählte mehr als alles andere. Danach würde er sich richten.
    Die kleine Insel mit der zerklüfteten Klippe, die sich hinter Anne aus den Wassern tief unten erhob, war in ein Licht getaucht, das dem einer erlöschenden, orangefarbenen Flamme glich. Am Horizont lag weit im Nordwesten der Hügel von Tara, hinter dem die blutrote Sonne gerade versank. Martin drehte sich noch einmal um und blickte nach Süden über die Dubliner Bucht. Dort dunkelte es bereits. Am anderen Ende der Bucht senkte sich auch über den kleinen Bezirk Dalkey langsam die Dämmerung. Und noch weiter im Süden, wo die fernen, vulkanischen Hügel in den letzten Strahlen der Abendsonne geglänzt hatten, war die gesamte Küstenlinie nur noch ein dunkler Umriss neben der eisengrauen, düsteren
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