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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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Beine geradezu als Schönheit bezeichnen konnte, war keine Ausnahme. Selbst in diesem Zustand, mausetot und zunehmend kälter, war sie immer noch sehr anziehend. Er wandte den Blick ab.
    Es würde Schwierigkeiten geben. Große Schwierigkeiten. Aber wie man es auch drehte und wendete, nichts würde diese arme Kleine wieder zum Leben erwecken. Man konnte nichts mehr für sie tun.
    Die Sonne ging auf. Die Baumwipfel glitzerten. Der Boden lag unter einer dicken Schneedecke. Sich die Leiche vom Hals zu schaffen war im Augenblick wohl das Vernünftigste, was er tun konnte. Wer wollte schon Ärger mit der Polizei in diesem Land? Wer glaubte noch daran, man müsse nur unschuldig sein, um in Frieden gelassen zu werden? Er öffnete das Fenster.
    Im Wald neben dem Haus war es still und friedlich. Krähen zogen ihre Kreise, Bussarde flogen im Zeitlupentempo und jagten. Unten im Tal trat der See aus dem Schatten und verwandelte sich in eine spiegelnde Fläche, über die schon die ersten Raddampfer glitten, herausgeputzt mit Girlanden und Fähnchen. Seine Schwester kam im Morgenrock in den Garten und rauchte ihre erste Zigarette. Sie sah zu ihm herauf.
    »Hallo, Marianne«, rief er und winkte. »Schöner Tag, findest du nicht?«
    »Verdammt, Marc. Du hast vielleicht einen Krach gemacht gestern Abend.«
    »Krach, ich? Meinst du meinen Auspuff?«
    »Es war jemand bei dir.«
    »Bei mir? Das hast du geträumt. Wahrscheinlich der Fernseher.«
    Eine Dachlawine kam ins Rutschen und landete auf dem Boden, dumpf knirschend wie ein schweres Baiser. Er zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Es war noch zwei Wochen zu früh, aber eine Sekunde lang hatte er geglaubt, den Duft des Frühlings wahrzunehmen – als wären im Laufe der Nacht die ersten Blumen erblüht –, aber vielleicht hatte er sich getäuscht. Jetzt roch er nichts mehr. Eis und Schnee hatten alles wieder unter sich begraben.
    Das Mädchen war so kalt wie ein Schinken, fast schon grau. Er holte tief Luft und begann, die Sachen der Unglücklichen einzusammeln.
    Dann machte er sich daran, sie wieder anzuziehen. Er überlegte kurz, ob er den weißen Baumwollslip behalten sollte, dessen Innenseite leicht nach Urin roch, rückte ihren BH wieder zurecht, den sie nicht abgelegt hatte, rollte ihr die Strümpfe wieder hoch. Dabei fielen ihm einige Szenen der Party wieder ein, auf der sie gewesen waren, bevor sie sich zum Chalet aufgemacht hatten, einer so betrunken und hinüber wie der andere und beide kaum noch bei Sinnen.
    Die Sonne strich jetzt über die andere Uferseite und ließ die Wälder in glühendem Rot aus der Dunkelheit hervortreten. Die Studentin war vollständig enthaart. Was für ein Trauerspiel, sie so daliegen zu sehen, erstarrt, unnütz, für immer ins Jenseits gegangen. Nach dieser unglaublichen Nummer, die sie geschoben hatten.
    Seine Bemühungen und Gedanken verschafften ihm den Beginn einer Erektion. Aber sein Zeitplan war zu eng, er schloss die Beine der jungen Frau. Eben hatte er unten die Kaffeemaschine gehört. In etwa zehn Minuten hätte er freie Bahn. Er nutzte den Moment und schluckte eine Handvoll Aspirin, bevor ihm endgültig der Schädel platzte.
    Er vergewisserte sich, dass er nichts vergessen hatte – seine Schlüssel, sein Telefon, seine Karten, sein Geld, seine Arbeitstasche, seinen Hut, seine Gleitsichtbrille usw. –, dann warf er sie sich über die Schulter und ging auf Zehenspitzen ins Erdgeschoss hinunter, schwerbeladen mit seiner unseligen Last.
    Zum Glück war er für sein Alter noch relativ fit, denn sie wog bestimmt 60 Kilo und war wenig hilfsbereit – besonders auf der Treppe, wo man keinesfalls eine Stufe verfehlen durfte.
    Auf dem Weg durch die Küche schnappte er sich einen Apfel, sein Frühstück. Draußen schien die Sonne, der Schnee knirschte unter seinen Füßen und zerstäubte wie Zucker. Es war schön und kalt. Er lehnte das Mädchen gegen die Autotür und begann, den Fiat mit einem von Total spendierten Eiskratzer von seiner frostigen Schale zu befreien. Er versuchte, an sein Seminar zu denken, wie er John Gardner vorstellen wollte – auch wenn er dann wieder als Verräter der französischen Literatur und unbelehrbarer Amerikafanatiker abgestempelt wurde.
    Wer waren da die Verräter? Wer vertuschte denn die Wahrheit? Die Schwierigkeiten begannen, als er die junge Frau ins Auto verfrachten wollte. Die Beine stellten sich quer. Es war nicht viel Platz. Er musste rabiat werden. Die Knochen stauchen. Marianne konnte jeden
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