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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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uff!, was für eine Erleichterung. Er war froh, dass er sich immer einer strikten Disziplin unterworfen hatte, dass er mit den Studentinnen immer einige grundlegende Vorsichtsmaßnahmen beachtet hatte. Nun konnte er aufatmen. Das Abwehrsystem hatte funktioniert, das Sicherheitsprinzip sich bezahlt gemacht.
    Man musste sich auf den Bauch legen und an die Felskante heranrobben, um einen Blick nach unten zu werfen, in diesen Schacht namenloser Schwärze. Wenn er daran zurückdachte, wie er damals fast dort hineingestürzt wäre, bekam er Gänsehaut. Später hatten seine Schwester und er einmal ein totes Reh gefunden, das auf halber Höhe an einem schmalen Felsvorsprung hängengeblieben war und sich wahrscheinlich das Rückgrat gebrochen hatte. Im darauf folgenden Sommer war nichts mehr davon übrig gewesen, nicht einmal ein Knochen.
    Barbaras Leiche war es genauso ergangen. Sie lag zwar da unten im Dunkeln, man konnte sie aber deutlich erkennen – ihr Fall war von einem schmalen, feuchten Überhang aufgehalten worden, der die Form einer Klinke hatte.
    Mit dem Kopf über dem Abgrund blieb er einen Moment lang liegen und überlegte, was zu tun sei. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit, dass der Blick eines Jägers, Spaziergängers oder von sonst irgendwem auf die sterblichen Überreste der Studentin fiel, äußerst gering. Aber sie war vorhanden. Raben kreisten am blauen Himmel, und er ließ sich einen Moment von ihnen ablenken, bevor er sich wieder mit dem Problem beschäftigte, dass irgendein verirrter Suffkopf oder ein grässlicher Pilzesammler die Leiche entdecken könnte.
    Es war nicht unmöglich, an sie heranzukommen. Es war nicht unmöglich, in diese Felsspalte hinabzusteigen – wenn er sich recht erinnerte – und an die Leiche von Barbara heranzukommen. Wenn man gut aufpasste, wo man hintrat. Man musste nur vorsichtig sein, gründlich prüfen, wo man Halt suchte, und sich genügend Zeit für den Abstieg nehmen. Und für den Aufstieg. Aber die Mühe lohnte sich.
    Es ging darum, alles richtig zu machen. Sein Instinkt hatte ihn dazu getrieben, sich die Leiche vom Hals zu schaffen, und sich die Leiche vom Hals zu schaffen hieß, sie musste verschwinden – den Blicken entzogen werden, selbst wenn es auch so eher unwahrscheinlich war, dass jemand sie sah. Aber soeben hatte sich seine Befürchtung bestätigt, dass der Job nur zur Hälfte erledigt war. Er nahm seine Brille ab und steckte sie ein. Das kommt davon, dachte er, wenn man überstürzt handelt. Natürlich war er an jenem Morgen sehr spät dran gewesen, hatte sich der Leiche der jungen Frau so schnell wie möglich entledigt und war dann ohne einen Blick zurück davongeeilt, um das Seminar über John Gardner und die Moral in der Literatur zu halten, aber das war keine Entschuldigung. Er hatte sich nicht sonderlich geschickt angestellt, so einfach war das, und oft musste man am Ende für seine Fehler büßen.
    Die Felswand war steil und rutschig. Zum Glück trug er gute Schuhe und wusste ungefähr, wie man die Sache anpacken musste – er hatte bei den Gebirgsjägern gedient. Ein paar Steine lösten sich auf seinem Weg und fielen ins Leere. Um kein Risiko einzugehen, drückte er sich so eng wie möglich an die Felswand und stieg vorsichtig hinab. Die Angst kommt mit dem Alter, dachte er, während er sich der Leiche Barbaras näherte, die Angst kommt, wenn wir uns dem Tod bewusst werden.
    Er war auf dem Felsvorsprung angelangt und bemerkte, dass seine Kleidung aussah, als hätte er sich im Schlamm gewälzt. Ein echtes Fiasko. Er verzog das Gesicht. Dann wandte er sich der Leiche der Studentin zu, deren grauer Teint nun ins Violette spielte. Sie schien auf einer Art Dorn festzusitzen.
    Er konnte sie mit der Fußspitze erreichen, und auch das nur, wenn er sein Bein durchstreckte. Er stieß sie an. Mit der Fußspitze. Er musste sie über die Kante schieben, damit sie ihre Reise in die Finsternis wiederaufnehmen konnte, aber das war nicht so einfach, wie es schien. Da hing etwas fest. Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken, während er wütend versuchte, die Leiche in den Abgrund zu stoßen, er wimmerte, japste, fluchte lauthals. All das brach die Stille des Waldes, die ansonsten nur von fernem Vogelgeschrei oder dem Rauschen der Blätter gestört wurde – harmlose Nettigkeiten im Vergleich zu den Schimpftiraden und Wehklagen, die jetzt vom Grund dieser dunklen Grotte emporschallten und sie in eine Echokammer verwandelten.
    Aber gerade als seine unfruchtbaren
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