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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition)
Autoren: Philippe Djian
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Bemühungen ihm den Rest zu geben drohten, als er seine letzten Reserven in die Schlacht warf, als er sich mit den Fingerspitzen an eine Wurzel klammern musste, hörte er ein lautes Geräusch wie von einem Reißen, und die Leiche der Studentin fiel in den Abgrund.
    »Hallo?«, rief eine Stimme über ihm. »Hallo?«
    Er erstarrte, sein Herz hörte auf zu schlagen.
    »Hallo?«, rief die Stimme noch einmal. »Ist da jemand? Alles in Ordnung?«
    Er drückte sich in den Schatten der Felswand und biss sich auf die Lippen. Jetzt hieß es schnell entscheiden. Die richtige Wahl treffen.
    »Können Sie mich hören? Ist alles in Ordnung?«
    Ihm war sofort klar, mit was für einer Sorte Mensch er es zu tun hatte. Sich noch länger zu verstecken war zwecklos. Es war die Sorte Mensch, die Blinde zum Überqueren der Straße zwang und sich in Sachen einmischte, die sie nichts angingen. Der Großteil der linken Lehrer gehörte zu diesem Schlag. »Alles okay, keine Sorge«, antwortete er und kletterte ins Licht.
    »Sind Sie ganz sicher?«
    *
     
    Richard Olso war Leiter des Fachbereichs Literatur, und das hatte gerade noch gefehlt. Dass Richard auch nur im Entferntesten in diese Geschichte verwickelt wurde. Es war wirklich das Letzte, was man sich wünschte.
    Hatte er etwas gesehen? Hatte er etwas bemerkt?
    »Marc? Was machen Sie denn hier, mein Lieber? Was haben Sie in diesem Loch verloren?«
    Dieser Typ konnte gar nicht anders als einen misstrauisch beäugen.
    »Mir ging es wie Ihnen«, antwortete er, als er sich aus der Spalte hievte. »Ich habe genauso reagiert wie Sie. Mir schien, ich hätte einen Schrei gehört, einen Hilferuf, aber ich habe mich getäuscht, da war nichts. Beim Hochklettern bin ich mit dem Fuß umgeknickt. Aber ich glaube, es ist alles in Ordnung.«
    »Dann waren das bestimmt Sie.«
    »Was?«
    »Bestimmt waren Sie es, den ich gehört habe. Ich habe gehalten, weil ich ihr Auto gesehen habe. Und dann das Getöse gehört, das Sie veranstaltet haben.«
    »Ich gehe gern hier spazieren«, antwortete er und zeigte auf den Wald, dessen Wipfel im goldgelben Sonnenlicht funkelten. »Früher war das unser Revier. Marianne und ich kannten es in- und auswendig. Unsere Eltern wollten unbedingt auf dem Land leben, unsere Mutter war ja auch Vegetarierin. In den ersten Frühlingstagen komme ich gerne hierher. Es gibt Momente, da ist das Licht einfach wunderbar.«
    Dass man Richard zum Leiter des Fachbereichs Literatur befördert hatte, war ein echter Skandal. Richard war jünger als er, weniger lang im Dienst und gab nur ein armseliges Komparatistikseminar, und doch hatte man Richard auf den Posten berufen und nicht ihn, so himmelschreiend ungerecht das auch sein mochte.
    Das Einzige, was ihre Zusammenarbeit erträglich machte, das Gleichgewicht wiederherstellte und für Ausgewogenheit sorgte, war die Sympathie, die ihm die Studentinnen entgegenbrachten, ganz im Gegensatz zu Richard, den sie nicht ausstehen konnten. »Vor allem, seit er sich den Bart hat wachsen lassen«, kicherten sie. »Dadurch bekommt er so ein spitzes Kinn. Hihi!« Allerdings, was für ein blödsinniges Bärtchen. Ganz genau. Wie recht sie doch hatten.
    »In meiner Jugend interessierte ich mich für Höhlenforschung«, erklärte er, während sie zu ihren Autos zurückgingen. »Und das tue ich wohl immer noch.« Kein Wunder, wenn man dauernd im Keller eingesperrt war, dachte er und wich den vereisten Stellen auf dem Weg aus. Oder in der Waschküche mit den Kohlevorräten und den Kartoffeln, während die anderen Familien längst mit Strom oder Gas heizten. Er erschauerte.
    Marianne hatte im Erdgeschoss jede Menge Räucherstäbchen angezündet. Das war ihr gutes Recht, denn es war ihr Bereich, aber im Laufe der Zeit hatten sich die Moschusdüfte immer mehr zu einem schweren Kirchengeruch verdichtet. Seine halbherzigen Bemerkungen kümmerten sie nicht, und sie schien es geradezu darauf anzulegen, das Haus bis in das von ihm bewohnte Obergeschoss zu verpesten. Die Luft war zum Schneiden. Als er nach Hause kam, hatte er noch nicht einmal seinen Anorak – seinen schmutzstarrenden Anorak – in der Diele aufgehängt, da hustete er schon.
    Sie befand sich im Wohnzimmer. Der Nachmittag ging zu Ende, das goldene Licht spielte in den Voluten. Sie trug eines seiner Hemden, ja, eines seiner Hemden, ein gestreiftes, nach dem er jüngst vergeblich gesucht hatte.
    »Löst das keinen Hustenreiz bei dir aus?«, fragte er.
    Sie zuckte beiläufig mit den Schultern, vertieft in
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