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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin
Autoren: Günter Grass
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niemand zur Stelle, dem es gelingen könnte, das Menschengeschlecht zu überleben.
Wir waren immer schon da. Auf jeden Fall gab es uns gegen Ende der Kreidezeit, als vom Menschen noch keine Idee spukte. Das war, als hier und anderswo Dinosaurier und ähnliche Monstren die Schachtelund Farnwälder kahlfraßen. Dumme Kaltblüter, die lächerlich große Eier legten, aus denen neue Monstren ungestalt schlüpften und sich gigantisch auswuchsen, bis wir diese Übertreibungen der Natur satt hatten und kleiner als heutzutage, etwa der Galapagos-Ratte vergleichbar ihre Rieseneier knackten. Blöd und erstarrt in nächtlicher Kälte standen die Saurier hilflos da, keiner Gegenwehr fähig. Sie, Launen der oft mißgelaunten Natur, mußten aus vergleichsweise winzigen, beim Schöpfungsakt halbvergessenen Köpfen ansehen, wie wir, Warmblüter von Anbeginn, wir, die ersten Säuger lebendig geworfener Aufzucht, wir, mit dem immerfort nachwachsenden Zahn, wir, die beweglichen Ratten, ihren Rieseneiern Löcher nagten, so hart und dick die Schalen dichthalten wollten. Gerade gelegt, noch nicht angebrütet, mußte ihr Eiersegen sich Loch nach Loch gefallen lassen, auf daß er auslief und uns lustig und satt machte. Arme Dinosaurier! höhnte die Rättin und zeigte ihre immerfort nachwachsenden Nagezähne. Sie zählte auf: den Brachiosaurus und den Diplodocus, zwei Monstren, die bis zu achtzig Tonnen wogen, schuppige Sauropoden und gepanzerte Theropoden, zu denen der Tyrannosaurus, ein Raubmonster von fünfzehn Metern Länge, gehörte, vogelfüßige Saurier und den gehörnten Torosaurus; Untiere, die sich mir alle traumwirklich zeigten. Dazu noch Lurche und Flugechsen.
Mein Gott, rief ich, ein Scheusal schlimmer als das andere! Die Rättin sagte: Es hatte bald ein Ende mit ihnen. Nach Verlust ihrer Rieseneier, zukünftiger Babymonstren beraubt, schleppten sich die Dinosaurier in die Sümpfe, um klaglos und äußerlich unbeschadet zu versacken. Deshalb hat der Mensch später, in seiner rastlos schürfenden Neugierde, ihre Gerippe so ordentlich beieinander gefunden, worauf er weiträumige Museen baute. Knochen an Knochen gefügt, wurden die Saurier ausgestellt, ein jegliches Exemplar einen Saal füllend. Zwar fand man auch sehenswerte Rieseneier, deren Schale unsere Zähne gezeichnet hatten, doch niemand, kein Forscher der ausgehenden Kreidezeit, kein Hohepriester der Evolutionslehre wollte unsere Leistung bestätigen. Aus bisher ungeklärten Gründen, hieß es, starben die Dinosaurier aus. Vielschichtige Verschalung der Eier, plötzlicher Klimasturz und sintflutartige Unwetter wurden als Ursachen für das Aussterben der Monstren vermutet; uns, dem Rattengeschlecht, wollte niemand Verdienste zusprechen.
So klagte die Rättin, von der mir träumt, nachdem sie mehrmals und bißwütig das Knacken der Rieseneier demonstriert hatte. Ohne uns gäbe es immer noch diese Mißgestalten! rief sie. Wir haben Platz geschaffen für neues, nicht mehr monströses Leben. Dank unseres nagenden Fleißes konnte sich weiteres Säugegetier warmblütig entwickeln, darunter Frühformen späterer Haustiere. Nicht nur Hunde, Pferde, Schweine, auch der Mensch ließ sich auf unsereins, die ersten Säuger, zurückführen; was er uns übel gedankt hat seit Noahs Zeiten, als Ratz und Rättlin in seinen Kasten nicht durften...
    Es gilt, jemanden zu begrüßen. Ein Mensch, der sich als alter Bekannter vorstellt, behauptet, es gäbe ihn immer noch. Er will wieder da sein. Gut, soll er.
Unser Herr Matzerath hat allerlei und bald auch seinen sechzigsten Geburtstag hinter sich. Selbst wenn wir den Prozeß und die Verwahrung in einer Anstalt, zudem das Unwägbare der Schuld außer acht lassen, hat sich nach seiner Entlassung viel Mühsal auf Oskars Buckel gehäuft: dieses Auf und Ab bei langsam wachsendem Wohlstand. So viel Aufmerksamkeit seine frühen Jahre fanden, sein Altern vollzog sich unbeachtet und lehrte ihn, Verluste wie Kleingewinne zu buchen. Bei gleichbleibend familiärem Gezänk immer ging es um Maria, besonders aber um seinen Sohn Kurt — hat ihn die Summe verstrichener Jahre zum gewöhnlichen Steuerzahler und freien Unternehmer gemacht: merklich gealtert. So geriet er in Vergessenheit, obgleich wir ahnten, es muß ihn noch geben: irgendwo lebt er in sich zurückgezogen. Man müßte ihn anrufen »Hallo, Oskar!« -, und schon wäre er da: redselig; denn nichts spricht für seinen Tod.
Ich jedenfalls habe unseren Herr Matzerath nicht ableben lassen, doch fiel mir zu
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