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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin
Autoren: Günter Grass
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ihm nichts Sonderliches mehr ein. Seit seinem dreißigsten Geburtstag gab es keine Nachricht von ihm. Er verweigerte sich. Oder war ich es, der ihn gesperrt hatte? Erst kürzlich, als ich ohne weitere Absicht treppab in den Keller zu den runzelnden Winteräpfeln wollte und in Gedanken allenfalls meiner Weihnachtsratte anhing, trafen wir uns wie auf höherer Ebene: er stand da und stand nicht da, er gab vor zu sein und warf einen Schatten plötzlich. Er wollte beachtet, gefragt werden. Und schon beachte ich ihn: Was macht ihn so plötzlich wieder bemerkenswert? Ist abermals die Zeit für ihn reif?
Seitdem der hundertundsiebte Geburtstag seiner Großmutter Anna Koljaiczek im Kalender vermerkt steht, wird vorerst halblaut nach unserem Herrn Matzerath gefragt. Eine einladende Postkarte hat ihn gefunden. Er soll zu den Gästen gehören, sobald auf Kaschubisch die Feier beginnt. Nicht mehr nach Bissau, dessen Äcker zu Flugpisten betoniert wurden, nach Matern, einem Dorf, das nahbei liegt, wird er gerufen. Ob er Lust hat, zu reisen? Soll er Maria, das Kurtchen bitten, ihn zu begleiten? Könnte es sein, daß der Gedanke an Rückkehr unseren Oskar ängstigt?
Und wie steht es um seine Gesundheit? Wie kleidet das bucklicht Männlein sich heutzutage? Soll, darf man ihn wiederbeleben?
Als ich mich vorsichtig versicherte, hatte die Rättin, von der mir träumt, nichts einzuwenden gegen die Auferstehung unseres Herrn Matzerath. Wahrend sie noch allen Müll berief, der von uns zeugen wird, sagte sie beiläufig: Weniger maßlos als vormals, bescheidener wird er auftreten. Er ahnt, was sich so trostlos bestätigt hat...
Also rufe ich »Hallo, Oskar!« -, und schon ist er da. Mit seiner Vorortvilla und dem dicken Mercedes. Samt Firma und Zweigstellen, Überschüssen und Rücklagen, Außenständen und Verlustabschreibungen, samt seinen ausgeklügelten Vorfinanzierungsplänen. Mit ihm ist seine quengelnde Restfamilie zur Stelle und jene Filmproduktion, die, dank rechtzeitigem Einstieg ins Videogeschäft, stetig ihren Marktanteil steigert. Nach einer anrüchigen, inzwischen eingestellten Pornoreihe ist es vor allem sein didaktisches Programm, das verdienstvoll genannt wird und dessen sattes Kassettenangebot wie Schulspeisung immer mehr Schüler füttert. Samt eingeborenem Medientick und seiner Lust an Vorgriffen und Rückblenden ist er da. Ich muß ihn nur ködern, ihm Brocken hinwerfen, dann wird er unser Herr Matzerath sein.
»Was, Oskar, halten Sie vom Waldsterben übrigens? Wie schätzen Sie die Gefahr drohender Verquallung für die westliche Ostsee ein? Wo, genau lokalisiert, vermuten Sie die versunkene Stadt Vineta? Sind Sie schon mal in Hameln gewesen? Meinen etwa auch Sie, daß es demnächst zu Ende geht?« Nicht der sterbende Wald, nicht zu viele Quallen machen ihn munter, meine Frage, was er vom Malskat-Prozeß halte »Sie erinnern sich, Oskar, das war in den fünfziger Jahren« -, läßt ihn zappelig und hoffentlich bald beredt werden.
Er sammelt Stücke aus dieser Zeit. Nicht nur die damals modernen Nierentische. Sein weißer Plattenspieler, auf dessen Teller er behutsam den Hit »The Great Pretender« legt, ist ein Gerät der auf Formschönheit bedachten Firma Braun und wurde, als Malskats Prozeß lief, Schneewittchensarg genannt; Farbgebung und Plexiglasdeckel erlaubten diesen Vergleich.
Da ich mich in seiner Vorstadtvilla befinde, zeigt er mir deren Kellerräume, die alle, bis auf einen, der neugierig macht, weil er verschlossen bleibt, mit Stücken aus den Jahren des Neubeginns vollgestellt sind. Ein größerer Raum dient privaten Filmvorführungen. Auf runden Blechbüchsen lese ich Titel »Sissi«, »Der Förster vom Silberwald«, »Die Sünderin« und ahne, daß unser Herr Matzerath noch immer vom Jahrzehnt der Trugbilder gefangen ist, wenngleich ihn seine VideoProduktion als jemanden ausweist, der auf Zukunft setzt. »Es stimmt«, sagt er, »im Grunde haben die fünfziger Jahre nicht aufgehört. Noch immer zehren wir vom damals fundierten Schwindel. Dieser solide Betrug! Was danach kam, war gewinnträchtiger Zeitvertreib.«
Stolz zeigt er mir einen Messerschmitt-Kabinenroller, der, auf ein Podest gestellt, einen kleineren Kellerraum beherrscht. Wie neu sieht er aus und lädt zwei Personen zum Platznehmen hintereinander ein. An cremefarben tapezierten Wänden hängen, zu Gruppen geordnet, gerahmte Fotos, die unseren Herrn Matzerath als Hintersassen des Kabinenrollers zeigen. Offenbar sitzt er erhöht, denn der grämlich
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