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Die Radleys

Titel: Die Radleys
Autoren: Matt Haig
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anfassen kann, etwas aus der Zeit vor den Digitalkameras, und sie hat nie gewagt, es auf ihrem iMac einzuscannen. »Paris 1992« steht mit Bleistift auf der Rückseite. Als ob sie je nötig gehabt hätte, das aufzuschreiben. Sie wünscht, das Foto würde gar nicht existieren, sie hätten den armen, unwissenden Passanten niemals gefragt, das Bild aufzunehmen. Aber es existiert, und da sie weiß, dass es existiert, kann sie es nicht zerreißen oder verbrennen oder es einfach nur nicht ansehen, sosehr sie sich auch bemüht.
    Weil er darauf ist.
    Ihr Konverter.
    Ein unwiderstehliches Lächeln leuchtet aus dieser unvergesslichen Nacht. Und sie selbst, lachend, so unverkennbar glücklich und unbeschwert steht sie da, mitten auf dem Montmartre im Minirock mit blutroten Lippen und einem gefährlichen Glitzern in den jungen Augen.
    »Du blöde Kuh«, sagt sie zu ihrem früheren Ich, während sie denkt: Ich könnte immer noch so aussehen, wenn ich wollte, oder fast so gut. Und ich könnte immer noch so glücklich sein.
    Obwohl das Bild im Lauf der Zeit und in der Wärme seines Verstecks ausgeblichen ist, hat es immer noch den gleichen schaurig-schönen Effekt.
    »Reiß dich zusammen.«
    Sie legt es in den Wäscheschrank zurück und kommt mit dem Arm an den Wasserboiler. Sie lässt den Arm da. Der Boiler ist heiß, aber sie wünscht sich, er wäre noch heißer. Sie wünscht sich, er wäre heiß genug, um sie zu bestrafen und ihr so viel Schmerz zuzufügen, wie sie braucht, um diesen wunderschönen, lang verlorenen Geschmack zu vergessen.
    Sie reißt sich zusammen und geht nach unten.
    Zwischen den Ritzen der Fensterläden zur Straße hindurch beobachtet sie den Müllmann, der die Auffahrt hinaufläuft, um ihren Müll abzuholen. Was er dann aber nicht tut. Jedenfalls nicht sofort. Er öffnet den Deckel einer Tonne, reißt einen der schwarzen Beutel auf und wühlt darin herum.
    Sie sieht, dass sein Partner etwas zu ihm sagt, worauf er den Deckel zuklappen lässt und die Tonne zum Lkw rollt.
    Sie wird angehoben, umgekippt, geleert.
    Der Müllmann blickt zum Haus. Er sieht sie, und seine Augen blinzeln kein einziges Mal. Er steht einfach da und starrt.
    Helen tritt zurück, vom Fenster weg, und ist erleichtert, als der Lkw eine Minute später die Straße weiterbrummt.

[Menü]
    FAUST
    Deutsch findet in einem großen alten Saal statt, in dem acht Glühlampen von der hohen Decke herabhängen. Zwei dieser Lampen befinden sich in dem flackernden Schwebezustand zwischen Leuchten und Nicht-Leuchten, den Rowans Kopf nicht verträgt.
    Rowan sitzt da, hinten in der Klasse tief nach unten gerutscht auf seinem Stuhl, und hört zu, wie Mrs. Sieben mit ihrer üblichen Theaterstimme aus Goethes Faust vorliest.
    »Welch Schauspiel!«, sagt sie mit verschränkten Händen, als würde sie das Aroma einer Mahlzeit preisen, die sie gerade zubereitet hat. »Aber ach, ein Schauspiel nur!«
    Sie blickt von ihrem Buch auf in die verstreuten ausdruckslosen Gesichter der Siebzehnjährigen.
    »Schauspiel? Wer weiß es?«
    Ein Theaterstück . Rowan kennt das Wort, hebt aber nicht die Hand, da ihm wie immer der Mut fehlt, freiwillig vor der ganzen Klasse laut zu sprechen, besonders wenn Eve Copeland in dieser Klasse ist.
    »Weiß es jemand? Wer weiß es?«
    Wenn Mrs. Sieben eine Frage stellt, reckt sie die Nase hoch, wie eine Haselmaus, die nach Käse schnüffelt. Heute wird sie allerdings hungern müssen.
    »Ihr müsst das Wort ableiten. Schau-Spiel. Schauen und spielen. Es ist eine Show. Ein Spiel. Etwas, das im Theater stattfindet. Goethe hat die Verlogenheit der Weltangeprangert. ›Was für eine Show! Aber ach – leider – ist es nur eine Show!‹ Goethe sagte ziemlich oft ›ach‹«, sagt sie lächelnd. »Er war Herr Ach.« Sie lässt den Blick durch den Raum schweifen, unheilvoll, bis er bei Rowan hängen bleibt, genau im falschen Moment. »Nun, dann lassen wir uns von unserem eigenen Herrn Ach helfen. Rowan, könntest du die Passage auf der nächsten Seite lesen, Seite sechsundzwanzig, es fängt an mit … warte mal …« Sie lächelt, als sie etwas entdeckt. »›Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust‹, zwei Seelen leben – oder hausen – leider! in meiner Brust oder in meinem Herzen … lies weiter, Herr Ach! Worauf wartest du?«
    Rowan sieht die Gesichter, die ihn anstarren. Die ganze Klasse reckt die Hälse, um den lächerlichen Anblick eines Jugendlichen nicht zu verpassen, der vor Schreck erstarrt, weil er laut vorlesen soll. Nur Eve
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